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»Ich hab gehört«, sagte June, »daß er Schwarzmarktgeschäfte getätigt hat. Wußtest du das? Womöglich sind sie ihm auf die Schliche gekommen.«

Silvia sagte: »Ich gehe lieber gleich heim und schau, ob ich etwas für Mrs. Steiner tun kann. Vielleicht kann ich die Kinder eine Weile zu uns nehmen.« Könnte es meine Schuld gewesen sein? fragte sie sich. Hat er es womöglich getan, weil ich ihnen heute morgen das Wasser verweigerte? Durchaus denkbar, denn er war zu Hause; er war noch nicht zur Arbeit gegangen.

Es könnte also wirklich unsere Schuld sein, dachte sie. Die Art, wie wir sie behandelt haben - wer von uns ist denn jemals richtig nett zu ihnen gewesen und hat sie respektiert? Aber es sind so entsetzlich weinerliche Leute, bitten einen dauernd um Hilfe, betteln und leihen ... wer könnte so jemanden schon respektieren?

Sie ging ins Haus und zog sich im Schlafzimmer ihre langen Hosen und das T-Shirt an. June Henessy wich ihr nicht von der Seite.

»Ja«, sagte June, »du hast recht - wir sollten alle in die Bresche springen und helfen, wo wir nur können. Ich frage mich, ob sie wohl bleiben oder zur Erde zurückkehren wird. Ich ginge heim - bin ja selber schon drauf und dran, heimzugehen, so trostlos ist es hier.«

Silvia schnappte sich Portemonnaie und Zigaretten, verabschiedete sich von June und machte sich den Graben entlang auf den Rückweg nach Hause. Atemlos traf sie gerade noch rechtzeitig ein, um zu sehen, wie der Polizeihubschrauber am Himmel verschwand. Die haben ihr Bescheid gegeben, stellte sie fest. Im Hinterhof fand sie David mit den vier Steiner-Mädchen; sie waren eifrig am Spielen.

»Haben sie Mrs. Steiner mitgenommen?« rief sie David zu.

Der Junge sprang sofort auf und kam aufgeregt zu ihr. »Mom, sie ist mit ihm geflogen. Ich pass auf die Mädchen auf.«

Das habe ich befürchtet, dachte Silvia. Die vier Mädchen blieben am Damm sitzen und spielten Zeitlupenhaft und apathisch ein Spiel mit Schlamm und Wasser, ohne daß eines von ihnen aufsah oder sie begrüßte; sie wirkten teilnahmslos, zweifellos durch den Schock, den die Nachricht vom Tod des Vaters bei ihnen ausgelöst hatte. Nur die kleinste ließ erkennen, daß allmählich wieder Leben in sie kam, aber sie hatte die Nachricht wahrscheinlich von vornherein nicht richtig begriffen. Schon, dachte Silvia, hat der Tod dieses Kleingeistes seine Folgen und Auswirkungen auf andere, und Kälte breitete sich aus. Sie spürte den eisigen Hauch auch in ihrem Herzen. Und ich konnte ihn noch nicht einmal leiden, dachte sie.

Beim Anblick der vier Steiner-Mädchen erbebte sie. Muß ich mich jetzt mit diesen schwabbeligen, plumpen, geistlosen Unterschichtkindern herumschlagen? fragte sie sich. Die Antwort drängte sich ihr auf und schob jeden anderen Gedanken beiseite: Ich will nicht! Sie empfand Panik, weil deutlich war, daß ihr nichts anderes übrigblieb; sie spielten ja schon auf ihrem Land, in ihrem Garten - sie hatte sie längst am Hals.

Hoffnungsvoll fragte das kleinste Mädchen: »Miz Bohlen, könnten wir noch etwas Wasser für unseren Damm haben?«

Wasser, ständig wollen sie Wasser, dachte Silvia. Ständig schröpfen sie uns, als wäre es ein ihnen angeborener Wesenszug. Sie ignorierte das Kind und sagte statt dessen zu ihrem Sohn: »Komm rein - ich muß mit dir reden.«

Sie gingen zusammen ins Haus, wo die Mädchen nichts mitkriegen konnten.

»David«, sagte sie, »ihr Vater ist tot, es kam gerade im Radio. Darum war auch die Polizei hier und hat ihre Mutter geholt. Wir müssen eine Weile aushelfen.« Sie versuchte zu lächeln, aber es war nicht möglich. »So wenig wir die Steiners leiden können ...«

David platzte heraus: »Ich hab nichts gegen sie, Mom. Wie kommt's, daß er gestorben ist? Hatte er einen Herzanfall? Haben ihn wilde Bleichmänner angegriffen, war es das?«

»Ist doch egal, wie er gestorben ist; wir müssen uns jetzt überlegen, was wir für die Mädchen tun können.« Ihr Kopf war leer; sie konnte nicht mehr klar denken. Sie wußte nur, daß sie die Mädchen nicht in ihrer Nähe haben wollte. »Was können wir tun?« fragte sie David.

»Vielleicht, ihnen was zu essen machen. Sie haben mir erzählt, daß sie noch nichts gegessen haben; ihre Mutter wollte ihnen gerade was machen.«

Silvia verließ das Haus und ging den Pfad hinunter. »Ich mache euch was zu essen, Mädels, jeder von euch, die möchte. Drüben in eurem Haus.« Sie wartete einen Moment lang und machte sich dann auf den Weg zum Steiner-Haus. Als sie sich umdrehte, sah sie, daß ihr nur das kleinste Kind folgte.

Das älteste Mädchen schluchzte mit tränenerstickter Stimme: »Nein danke.«

»Du solltest aber was essen«, sagte Silvia, obwohl sie erleichtert war. »Komm mit«, sagte sie zu dem kleinen Mädchen. »Wie heißt du denn?«

»Betty«, sagte das kleine Mädchen schüchtern. »Könnte ich wohl ein Brot mit Ei haben? Und Kakao?«

»Wir werden sehen, was da ist«, sagte Silvia.

Später, als das Kind sein Eibrot aß und den Kakao trank, nutzte Silvia die Gelegenheit, um das Steiner-Haus zu erkunden. Im Schlafzimmer fand sie etwas, das sie interessierte: das Bild eines kleinen Jungen mit großen, dunklen, leuchtenden Augen und lockigem Haar; er sah, dachte Silvia, wie eine verzweifelte Kreatur aus einer anderen Welt aus, einer herrlichen und doch grauenhaften Welt jenseits ihrer eigenen.

Sie trug das Bild in die Küche und fragte Klein-Betty, wer der Junge sei.

»Das ist mein Bruder Manfred«, antwortete Betty, den Mund voll Ei und Brot. Dann begann sie zu kichern. Zwischendurch kamen zögernd ein paar Worte hervor, und Silvia merkte, daß die Mädchen ihren Bruder niemandem gegenüber erwähnen sollten.

»Warum lebt er denn nicht bei euch?« fragte Silvia neugierig.

»Er ist doch im Camp«, sagte Betty. »Weil er nicht sprechen kann.«

»Was für eine Schande«, sagte Silvia und dachte: In diesem Camp in Neu-Israel, ganz klar. Kein Wunder, daß die Mädchen ihn nicht erwähnen sollen; er ist eines von diesen abnormen Kindern, von denen man hört, die man aber nie sieht. Der Gedanke machte sie traurig. Heimliche Tragödie im Steiner-Haushalt; das hätte sie nie vermutet. Und Mr. Steiner hatte sich in Neu-Israel das Leben genommen. Sicher hatte er seinen Sohn besucht.

Dann hat es also nichts mit uns zu tun, entschied sie, als sie das Bild wieder an seinen Platz im Schlafzimmer stellte. Mr. Steiners Entschluß beruhte auf einer persönlichen Angelegenheit. Sie fühlte sich dadurch erleichtert.

Seltsam, dachte sie, wie man sofort mit Schuldgefühlen und Verantwortungsbewußtsein reagiert, wenn man von Selbstmord hört. Wenn ich nur dies nicht getan hätte oder das ... ich hätte es verhindern können. Ich bin schuld. Und in diesem Fall war es gar nicht so; sie war für die Steiners ein völliger Außenseiter und hatte an ihrem eigentlichen Leben gar nicht teilgenommen, sich das in einem Anflug neurotischer Schuldgefühle nur eingebildet.

»Siehst du deinen Bruder manchmal?« fragte sie Betty.

»Ich glaub, letztes Jahr hab ich ihn gesehen«, sagte Betty zögernd. »Er hat Fangen gespielt, und es waren noch viele andere Jungs da, größer als ich.«

Nun betraten die drei älteren Steiner-Mädchen im Gänsemarsch die Küche und stellten sich am Tisch auf. Schließlich brach es aus der ältesten heraus: »Wir haben es uns überlegt, wir hätten doch gern was zu essen.«

»In Ordnung«, sagte Silvia. »Ihr könnt mir helfen, die Eier zu pellen. Warum geht ihr nicht David holen, und ich gebe ihm auch gleich was? Würde euch das nicht Spaß machen, alle zusammen zu essen?«

Sie nickten stumm.

Arnie Kott kam gerade die Hauptstraße von Neu-Israel hoch, als er vor sich eine Menschenmenge und Autos sah, die am Straßenrand stehenblieben, und er hielt einen Moment inne, ehe er sich in Richtung von Anne Esterhazys Geschenkartikelladen für zeitgenössische Kunst wandte. Da geht doch irgendwas vor, sagte er sich. Ein Raubüberfall? Krawall auf offener Straße?