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Seit sein eigener Sohn David auf die Public School gekommen war, hatte Jack unablässig auf die Schreckensnachricht gewartet, daß man den Jungen vielleicht an Hand der Leistungskriterien, nach denen die Lehrmaschinen ihre Schüler einstuften, gar nicht beurteilen konnte. Aber David hatte begeistert auf die Lehrmaschinen angesprochen, hatte sogar sehr gut abgeschnitten. Der Junge mochte die meisten seiner Lehrer, und wenn er nach Hause kam, schwärmte er von ihnen; noch mit den strengsten von ihnen kam er blendend aus, und inzwischen war klar, daß er keine Probleme hatte - er war nicht autistisch und würde Camp B-G nie von innen sehen müssen. Doch deshalb fühlte Jack sich nicht besser. Nichts, hatte Silvia betont, hätte bewirken können, daß er sich besser fühlte. Es gab nur zwei Möglichkeiten, die Public School oder Camp B-G, und Jack mißtraute beiden. Und warum? Er wußte es nicht.

Vielleicht, hatte er einmal vermutet, weil es überhaupt so etwas wie Autismus gab. Es war eine Kindheitsform der Schizophrenie, an der viele Menschen litten; Schizophrenie war eine der Hauptkrankheiten, die früher oder später in fast jeder Familie auftrat. Man verstand darunter einfach eine Person, die die Triebe, die ihr von der Gesellschaft eingeimpft worden waren, nicht ausleben konnte. Die Realität, von der der Schizophrene sich abwandte - oder in die er gar nicht erst eingebunden wurde -, war die Realität zwischenmenschlicher Lebensweise, des Lebens in einer bestimmten Kultur mit bestimmten Werten; nicht des biologischen Lebens oder einer Form ererbten Lebens, sondern des erlernten Lebens. Man mußte es Stück für Stück denjenigen um einen herum, den Eltern und Lehrern, den Autoritätspersonen im allgemeinen, abschauen ... jedem, mit dem diese Person in den prägenden Jahren zusammenkam.

Die Public School tat also gut daran, ein Kind, das nicht lernte, hinauszuwerfen. Das Kind lernte nämlich nicht bloß Fakten oder die Grundlagen des Geldverdienens oder vielleicht einer nützlichen Karriere. Es ging viel tiefer. Das Kind lernte, daß gewisse Dinge in der umgebenden Kultur es wert waren, um jeden Preis bewahrt zu werden. Seine Werte wurden mit objektiven menschlichen Zielsetzungen verschmolzen. Und so wurde es selbst zu einem Bestandteil der Tradition, die an es weitergereicht worden war; es bewahrte sein Erbe ein Leben lang und baute noch darauf auf. Es bedeutete ihm etwas. Echter Autismus, zu diesem Schluß war Jack gekommen, war im Grunde Apathie gegenüber den Bemühungen der Allgemeinheit; es war eine Privatexistenz, die fortgeführt wurde, als wäre der einzelne der Schöpfer aller Werte statt lediglich das Sammelbecken der ererbten Werte. Und Jack Bohlen konnte die Public School mit ihren Lehrmaschinen beim besten Willen nicht als alleinigen Richter dessen akzeptieren, was wertvoll war und was nicht. Die Werte einer Gesellschaft befanden sich nämlich in dauerndem Wandel, und die Public Scool stellte einen Versuch dar, diese Werte zu stabilisieren, sie an einem bestimmten Punkt zu fixieren - sie einzubalsamieren.

Die Public School, das hatte er schon vor langer Zeit erkannt, war neurotisch. Sie wollte eine Welt, in der sich nichts Neues tat, in der es keine Überraschungen gab. Und das war die Welt des besessenen Zwangsneurotikers; es war alles andere als eine gesunde Welt.

Einmal, vor ein paar Jahren, hatte er seiner Frau von dieser Theorie erzählt. Silvia hatte leidlich aufmerksam zugehört und dann gesagt: »Aber darum geht es gar nicht, Jack. Versuch doch zu verstehen. Es gibt soviel Schlimmeres als Neurosen.« Sie hatte mit leiser und fester Stimme gesprochen, und er war ganz Ohr gewesen. »Wir fangen gerade erst an, etwas darüber zu erfahren. Du kennst dich damit schon aus. Du hast es hinter dir.«

Und er nickte, weil er wußte, was sie meinte. Er hatte selbst einmal eine psychotische Phase durchgemacht, Anfang Zwanzig. Das war nichts Ungewöhnliches. Es war sogar eher natürlich und, wie er zugeben mußte, grauenhaft. Angesichts dessen schien die starre, unbeugsame, zwangsneurotische Public School einen Rahmen zu bieten, der es einem ermöglichte, dankbar seinen Weg zur Menschheit und zur gemeinsamen Realität zurückzufinden. Er hatte begriffen, daß eine Neurose ein gewolltes Kunstprodukt war, vom leidenden Individuum oder einer Gesellschaft, die in der Krise steckte, absichtlich erschaffen. Sie war eine Erfindung, die aus der Notwendigkeit heraus entstand.

»Hack nicht ständig auf den Neurosen herum«, hatte Silvia zu ihm gesagt, und er verstand sie. Neurosen waren ein bewußtes Innehalten, ein Erstarren irgendwo auf dem Lebensweg. Denn jenseits lag ...

Jeder Schizophrene wußte, was dort lag. Und jeder ehemals Schizophrene, dachte Jack, während er sich an seine eigene Episode erinnerte.

*

Die beiden Männer auf der anderen Seite des Zimmers starrten ihn sonderbar an. Was hatte er gesagt? Herbert Hoover war ein viel besserer Leiter des FBI, als Carrington je sein wird. »Ich weiß, daß ich recht habe«, fügte er hinzu. »Jede Wette.« Seine Gedanken wirbelten durcheinander, und er nippte an seinem Bier. Alles war schwer geworden, sein Arm und das Glas; es fiel ihm leichter, nach unten zu schauen als nach oben ... Er studierte das Streichholzbriefchen auf dem Sofatisch.

»Sie meinen nicht Herbert Hoover«, sagte Lou Notting. »Sie meinen J. Edgar ...«

Herrje! dachte Jack entsetzt. Ja, er hatte Herbert Hoover gesagt, und es war ihm erst aufgefallen, als sie ihn darauf hinwiesen. Was ist nur los mit mir? fragte er sich. Ich fühle mich wie im Halbschlaf. Dabei war er am Abend zuvor schon um zehn ins Bett gegangen, hatte fast zwölf Stunden geschlafen. »Entschuldigen Sie«, sagte er. »Natürlich meine ich ...« Er merkte, wie er sich verhaspelte. Sorgfältig sagte er: »J. Edgar Hoover.« Aber seine Stimme klang belegt und schleppend, wie ein Schallplattenteller, der an Schwung verliert. Und nun war es ihm schon fast unmöglich, den Kopf zu heben; er schlief an Ort und Stelle ein, hier in Nottings Wohnzimmer, doch ihm fielen die Augen nicht zu - als er sie schließen wollte, stellte er fest, daß es nicht ging. Seine Aufmerksamkeit war ganz auf das Streichholzbriefchen gerichtet. Vor dem Anzünden zuklappen, las er. Können Sie dieses Pferd zeichnen? Erste Unterrichtsstunde gratis, keine Verpflichtungen. Vordruck für kostenlose Anmeldung siehe Rückseite. Ohne zu blinzeln starrte er weiter, während Lou Notting und Fred Clarke über abstrakte Dinge wie die Beschneidungen der Freiheit und den demokratischen Prozeß diskutierten ... er hörte deutlich jedes Wort und lauschte ihnen gern. Aber er hatte keine Lust, sich an der Diskussion zu beteiligen, obwohl er wußte, daß beide unrecht hatten. Er ließ sie weiterdiskutieren; das war einfacher. Es geschah einfach. Und er ließ es geschehen.

»Jack ist heute nicht bei der Sache«, sagte Clarke. Erschreckt fuhr Jack Bohlen hoch, als ihm klar wurde, daß sie ihn aufmerksam ansahen; er mußte jetzt etwas tun oder sagen.

»Doch, bin ich«, sagte er, und es kostete ihn enorme Kraft; es war, als mußte er sich erst an die Meeresoberfläche kämpfen. »Nur zu, ich bin ganz Ohr.«

»Mein Gott, du siehst aus wie eine Attrappe«, sagte Notting. »Geh nach Hause und leg dich schlafen, um alles in der Welt.«

Lous Frau Phyllis betrat das Wohnzimmer und sagte: »In dem Zustand, in dem du jetzt bist, wirst du es nie bis auf den Mars schaffen, Jack.« Sie drehte die Hi-Fi-Anlage lauter; es war eine progressive Jazzband, Vibraphon und Kontrabaß, vielleicht auch ein elektronisches Instrument. Die kesse blonde Phyllis setzte sich neben ihn aufs Sofa und musterte ihn eingehend.

»Jack, bist du sauer auf uns? Ich meine, du bist so abwesend.«

»Das ist nur eine von seinen Launen«, sagte Notting. »Als wir gedient haben, war er auch immer so, besonders am Samstagabend. Mürrisch und schweigsam, ein Grübler. Worüber grübelst du jetzt gerade nach, Jack?«