Ich will es weiter versuchen.
Als er beim Dahinschlendern die Hände in die Taschen schob, berührte er dabei etwas Kleines, Kaltes, Hartes; erstaunt zog er es hervor und sah, daß es ein verschrumpelter Gegenstand war, eine Art Baumwurzel.
»Was, in aller Welt, ist das?« fragte ihn Doreen.
Es war die Wasserhexe, die ihm die Bleichmänner am Morgen draußen in der Wüste geschenkt hatten; er hatte sie völlig vergessen.
»Ein Glücksbringer«, sagte Jack zu dem Mädchen.
Schaudernd sagte sie: »Der ist ja mordshäßlich.«
»Mag sein«, stimmte er zu, »aber wohlmeinend. Und wir haben nun mal dieses Problem, wir Schizophrenen; wir erfassen die unbewußte Feindseligkeit anderer.«
»Ich weiß. Der Faktor Telepathie. Bei Clay wurde er immer schlimmer, bis ...« Sie warf ihm einen Blick zu. »Das paranoide Ende.«
»Das ist das Schlimmste an unserer Veranlagung, dieses Bewußtsein um den verschütteten, verdrängten Sadismus und die Aggression anderer um uns herum, selbst bei Fremden. Ich wünschte bei Gott, daß wir das nicht hätten; wir kriegen es sogar bei Leuten im Restaurant mit ...« Er dachte an Glaub. »In Bussen, im Theater. In der Menge.«
Doreen sagte: »Haben Sie eine Ahnung, was Arnie durch den Steiner-Jungen herausfinden will?«
»Nun, diese Theorie über Präkognition ...«
»Aber was will Arnie über die Zukunft erfahren? Sie haben keinen blassen Dunst, oder? Und Ihnen käme auch nie in den Sinn, es wissen zu wollen.«
Das stimmte. Er war nicht einmal neugierig.
»Ihnen genügt es«, sagte sie langsam und sah ihn scharf an, »nur Ihre technische Aufgabe zu erfüllen und die nötige Apparatur zusammenzubasteln. Das ist nicht richtig, Jack Bohlen; das ist kein gutes Zeichen.«
»Oh«, sagte er. Er nickte. »Das ist wohl sehr schizophren ... sich mit einer rein technischen Beziehung zufriedenzugeben.«
»Wollen Sie Arnie fragen?«
Er fühlte sich unbehaglich. »Das ist seine Sache, nicht meine. Der Job ist interessant, und ich mag Arnie, ich ziehe ihn Mr. Yee vor. Ich ... ich mische mich nur nicht gern ein. So bin ich nun mal.«
»Ich denke, Sie haben Angst. Aber ich verstehe nicht, warum. Sie sind mutig, und irgendwo tief drin haben Sie doch schreckliche Angst.«
»Möglich«, sagte er mit einem Gefühl von Traurigkeit.
Gemeinsam gingen sie ins Willows zurück.
*
Nachts, als alle gegangen waren. Auch Doreen Anderton; Arnie saß allein in seinem Wohnzimmer und rieb sich die Hände. Das war vielleicht ein Tag gewesen.
Ein prima Mechaniker war ihm auf den Leim gegangen, der schon seinen unschätzbaren Chiffrierer wieder in Schuß gebracht hatte und ihm jetzt noch einen elektronischen Zauberkasten baute, mit dem er die präkognitiven Fähigkeiten eines autistischen Kindes anzapfen konnte.
Er hatte die erforderlichen Informationen zum Nulltarif aus einem Psychiater herausgeholt und es dann sogar geschafft, den Psychiater abzuwimmeln.
Es war also alles in allem ein ungewöhnlicher Tag gewesen. Blieben nur zwei Probleme: Sein Cembalo war noch immer verstimmt, und - welches war noch gleich das andere? Es war ihm entfallen. Er grübelte vor dem Fernseher nach und sah sich dabei die Kämpfe in America the Beautiful an, der US-Kolonie auf dem Mars.
Dann fiel es ihm wieder ein. Norb Steiners Tod. Seine Quelle für Leckerbissen war versiegt.
»Das kriege ich auch noch hin«, sagte Arnie laut. Er schaltete den Fernseher ab und holte seinen Chiffrierer hervor; davor sitzend, das Mikrofon in der Hand, gab er eine Nachricht auf. Sie war an Scott Temple gerichtet, mit dem er schon viele wichtige Geschäfte getätigt hatte; Temple war ein Vetter von Ed Rockingham und jemand, den man unbedingt kennen sollte - durch eine Chartervereinbarung mit der UN hatte er es fertiggebracht, die Kontrolle über die Mehrzahl der auf dem Mars eintreffenden medizinischen Lieferungen zu erlangen, und das summierte sich zu einem wahrhaft phantastischen Monopol!
Die Chiffriertrommeln drehten sich ermutigend.
»Scott!« sagte Arnie, »wie geht's? He, du kennst doch diesen armen Burschen Norb Steiner? Ein Jammer, ich meine, sein Tod und das alles. Ich hab gehört, er soll geistig du-weißt-schon-was gewesen sein. Wie wir alle.« Arnie lachte darüber lang und rauh. »Na, jedenfalls stellt uns das vor ein kleines Problem - ich meine, was die Beschaffung angeht. Stimmt's? Also hör zu, Scott, altes Haus. Das möchte ich gern mit dir besprechen. Ich bin zu Hause. Verstehst du? Komm doch in ein, zwei Tagen hier vorbei, damit wir es genau durchgehen können. Ich finde, die Sachen, die Steiner benutzt hat, sollten wir vergessen; wir fangen neu an, legen uns irgendwo weit draußen unser eigenes kleines Landefeld zu, unsere eigenen Zubringerraketen, was immer wir sonst noch brauchen. Sorgen dafür, daß wir weiter diese geräucherten Austern bekommen, wie sich's gehört.« Er schaltete die Maschine ab und dachte nach, ob er etwas vergessen hatte. Nein, es war alles gesagt; zwischen ihm und einem Mann wie Scott Temple brauchte nicht mehr gesagt zu werden; die Angelegenheit war klar. »Okay, Scotty, mein Junge«, sagte er. »Ich erwarte dich also hier.«
Als er die Spule abgenommen hatte, kam ihm der Gedanke, daß er sie noch einmal abspielen sollte, nur um sicherzugehen, daß sie auch chiffriert worden war. Lieber Gott, eine Katastrophe, wenn durch irgendeinen dummen Zufall alles im Klartext herauskäme!
Aber sie war chiffriert worden, und zwar aufs Feinste: Die Maschine hatte aus den semantischen Einheiten eine katzenmusikartige Parodie zeitgenössischer elektronischer Musik gemacht. Als Arnie das Pfeifen, Knurren, Fiepen, Tuten und Summen hörte, lachte er, bis ihm Tränen über die Wangen liefen; er mußte ins Bad gehen und sich kaltes Wasser ins Gesicht klatschen, um aufhören zu können.
Dann, wieder am Chiffrierer, kennzeichnete er vorsichtig die Schachtel, in die er die Spule gelegt hatte:
Gesang des Windgeistes. Eine Kantate von Karl William Dittershand
Dieser Komponist, Karl William Dittershand, war zur Zeit der erklärte Liebling unter den Intellektuellen auf der Erde, und Arnie verabscheute dessen sogenannte elektronische >Musik<; er selber war Purist: Für seinen Geschmack hörte es nach Brahms schlagartig auf. Arnie freute sich diebisch - seine chiffrierte Nachricht mit einer Bezeichnung zu versehen, die seinen und Scotts Einstieg in den Schwarzmarktimport von Lebensmitteln als Kantate von Dittershand ausgab! - und rief dann einen Gildebruder an, der die Spule in den Norden nach Nova Britannica bringen sollte, der englischen Kolonie auf dem Mars.
Damit beschloß Arnie um acht Uhr dreißig abends seine Tagesgeschäfte und kehrte zu seinem Fernseher zurück, um das Ende der Kämpfe zu verfolgen. Er zündete sich noch eine ultraleichte Optimo Admiral an, lehnte sich zurück, ließ einen fahren und entspannte sich.
Ich wünschte, alle Tage wären wie dieser, sagte er sich. Wenn sie es wären, könnte ich ewig leben; solche Tage machten ihn jünger, nicht älter. Er fühlte sich, als sähe er wieder die Vierzig auf sich zukommen.
Man stelle sich vor: ich auf dem Schwarzmarkt, malte er sich aus. Und alles wegen dieses Kleinkrams, diesen kleinen Dosen mit Marmelade von wilden Brombeeren und Scheiben mariniertem Aal und Lachs. Aber auch das war lebenswichtig; besonders für ihn. Niemand raubt mir die kleinen Freuden des Alltags, dachte er grimmig. Wenn dieser Steiner gedacht hat, er könnte mir durch seinen Selbstmord vorenthalten, wonach ich mich sehne ...
»Na los!« feuerte er den farbigen Jungen an, der im Fernsehen Prügel bezog. »Komm hoch, du Lump, gib's ihm!«
Als hätte er ihn gehört, rappelte der schwarze Kämpfer sich wieder auf, und Arnie Kott kicherte schrill und aufs höchste erfreut.