»Ich weiß, was du meinst.«
Unerbittlich fuhr Leo fort: »Als ich noch jung war, gab es keine Geisteskrankheiten, so wie heute. Das ist ein Zeichen der Zeit; zu viele Menschen, große Überbevölkerung. Ich weiß noch, als du das erste Mal krank wurdest und schon lange Zeit vorher, sagen wir mit Siebzehn, da warst du so kalt gegenüber anderen Menschen, gänzlich uninteressiert an ihnen. Und launisch. Mir scheint, du bist jetzt wieder genauso.«
Jack starrte seinen Vater an. Das war das Problem, wenn man Verwandte zu Besuch hatte; nie konnten sie der Versuchung widerstehen, wieder in ihre alte Rolle als Allweise, Allwissende zu schlüpfen. Für Leo war Jack kein Erwachsener mit Frau und Kind; er war einfach sein Sohn Jack.
»Sieh mal, Leo«, sagte Jack. »Hier draußen gibt es nur wenige Menschen; bisher ist das noch ein dünn besiedelter Planet. Natürlich sind die Menschen hier nicht so gesellig; sie müssen introvertierter sein als zu Hause auf der Erde, wo es wohl genauso ist, wie du sagst, tagaus, tagein ein einziger Volksauflauf.«
Leo nickte. »Hmm. Aber dann sollte es dich um so mehr freuen, andere Menschen zu sehen.«
»Wenn du damit dich selber meinst: Ich freue mich sehr, dich zu sehen.«
»Klar, Jack«, sagte Leo, »ich weiß. Vielleicht bin ich ja auch nur müde. Aber du scheinst so wortkarg zu sein; du bist mit den Gedanken ganz woanders.«
»Meine Arbeit«, sagte Jack. »Dieser Junge, Manfred, dieses autistische Kind - ich muß unablässig an ihn denken.«
Aber wie in alten Zeiten konnte sein Vater mit zuverlässigem Elterninstinkt die Vorwände seines Sohns durchschauen: »Komm schon, Junge«, sagte Leo. »Dir geht viel im Kopf herum, aber ich kenne deinen Job; du arbeitest mit den Händen, und ich spreche von deiner Psyche, deine Psyche hat sich nach innen gekehrt. Kann man dieses Psychotherapie-Brimborium auch hier auf dem Mars bekommen? Streit's nicht ab, ich weiß es nämlich besser.«
»Ich streite es ja gar nicht ab«, sagte Jack, »aber eins will ich dir sagen: Das geht dich einen Dreck an.«
Neben ihm in der Dunkelheit schien sein Vater zusammenzuschrecken und lenkte ein. »Okay, Junge«, murmelte er. »Tut mir leid, daß ich mich eingemischt habe.«
Beide verfielen in betretenes Schweigen.
»Zum Teufel«, sagte Jack, »laß uns nicht zanken, Dad. Gehen wir wieder rein und trinken noch einen, bevor wir uns in die Falle hauen. Silvia hat im zweiten Schlafzimmer ein schönes weiches Bett für dich hergerichtet; ich bin sicher, du wirst gut schlafen.«
»Silvia kümmert sich sehr aufmerksam um die Bedürfnisse anderer«, sagte Leo in leicht vorwurfsvollem Ton zu seinem Sohn. Dann wurde seine Stimme milder: »Jack, ich mache mir ständig Sorgen um dich. Vielleicht bin ich ja altmodisch und verstehe diese ganze Sache -das mit der Geisteskrankeit - nur nicht; heutzutage scheint das jeder zu haben; es ist so verbreitet wie früher Grippe oder Kinderlähmung oder wie die Masern, die man in meiner Kindheit bekam. Bei euch ist das jetzt eben das. Jeder dritte, habe ich mal im Fernsehen gehört. Schizo ... was auch immer. Ich meine, Jack, wo es doch soviel gibt, wofür zu leben sich lohnt, warum sollte man da dem Leben den Rücken zukehren wie diese Schizo-Leute? Das ergibt doch keinen Sinn. Ihr habt hier einen ganzen Planeten, den ihr erobern könnt. Morgen, zum Beispiel, fahre ich mit dir zu den FDR-Bergen, und du kannst mich überall herumführen. Ich kenne sämtliche Details über das juristische Prozedere hier; ich werde kaufen. Paß auf: Du kaufst auch, hörst du? Ich strecke dir das Geld vor.« Er grinste Jack hoffnungsvoll an und zeigte dabei sein Gebiß aus rostfreiem Stahl.
»Nicht mein Fall«, sagte Jack. »Trotzdem danke.«
»Ich suche auch die Parzelle für dich aus«, bot Leo an.
»Nein. Ich bin einfach nicht interessiert.«
»Du - hast doch jetzt Spaß an deinem Job, Jack? Diese Maschine zu konstruieren, um mit dem kleinen Jungen reden zu können, der nicht sprechen kann? Klingt nach einer nützlichen Tätigkeit; es erfüllt mich mit Stolz, das zu hören. David ist ein prächtiger Junge, und er ist ja so stolz auf seinen Dad.«
»Ich weiß«, sagte Jack.
»David zeigt doch keine Anzeichen dieser Schizosache, oder?«
»Nein«, sagte Jack.
»Ich weiß nicht, woher du das hast, sicher nicht von mir - ich mag Menschen.«
»Ich auch«, sagte Jack. Er fragte sich, wie sein Vater reagieren würde, wenn er das mit Doreen wüßte. Wahrscheinlich wäre er zutiefst betrübt; er stammte aus einer sittenstrengen Generation - 1924 geboren, vor langer Zeit. Das war noch eine andere Welt damals. Erstaunlich, wie sein Vater sich der heutigen angepaßt hatte; ein Wunder. Leo, in der Zeit des Aufschwungs nach dem Ersten Weltkrieg geboren, stand jetzt hier am Rand der Marswüste ... aber das mit Doreen würde er immer noch nicht verstehen, wie lebenswichtig es für ihn war, um jeden Preis einen solchen persönlichen Kontakt aufrechtzuerhalten; oder doch fast um jeden Preis.
»Wie heißt sie?« fragte Leo.
»W-was?« stammelte Jack.
»Ich habe ein gewisses telepathisches Gespür«, sagte Leo mit tonloser Stimme. »Nicht wahr?«
Nach einer Weile sagte Jack: »Anscheinend.«
»Weiß Silvia davon?«
»Nein.«
»Ich bin darauf gekommen, weil du mir nicht in die Augen schauen konntest.«
»Scheiße«, sagte Jack heftig.
»Ist sie auch verheiratet? Hat sie auch Kinder, diese andere Frau, mit der du dich eingelassen hast?«
Jack sagte so ruhig wie möglich: »Wieso benutzt du nicht dein telepathisches Gespür und findest es selbst heraus?«
»Ich will einfach nicht, daß Silvia leiden muß«, sagte Leo.
»Muß sie auch nicht«, sagte Jack.
»Schlimm«, sagte Leo, »die lange Reise zu machen und dann so etwas zu erfahren. Tja ...« Er seufzte. »Gehe ich eben meinen Geschäften nach. Morgen stehen wir in aller Frühe auf und fliegen los.«
Jack sagte: »Urteile nicht zu hart, Dad.«
»In Ordnung«, stimmte Leo zu. »Ich weiß, die Zeiten sind moderner geworden. Du glaubst wohl, es tut dir gut, wenn du so herummachst - was? Vielleicht. Vielleicht verhindert es, daß man verrückt wird. Womit ich nicht sagen will, du seist verrückt ...«
»Nur leicht angeknackst«, sagte Jack mit großer Bitterkeit. Himmel, dein eigener Vater, dachte er. Was für eine Prüfung. Was für eine elende Tragödie.
»Ich weiß, daß du heil aus der Sache herauskommst«, sagte Leo. »Ich merke, daß du es dir nicht leichtmachst; es ist nicht nur das Herummachen. Deine Stimme verrät es mir - du hast Sorgen. Dieselben, die du schon immer hattest; wenn man älter wird, wiegen sie bloß schwerer, und es fällt einem nicht mehr so leicht - stimmt's? Ja, das verstehe ich. Dieser Planet ist einsam. Ein Wunder, daß ihr Auswanderer nicht alle auf Anhieb verrückt geworden seid. Ich verstehe, warum du die Liebe so hoch schätzt, wo auch immer du sie findest. Du brauchst etwas, wie ich es habe, in Form dieser Grundstückssache; vielleicht findest du es darin, daß du für diesen armen stummen Jungen deine Maschine baust. Ich würde ihn gern einmal kennenlernen.« »Das wirst du«, sagte Jack. »Vielleicht morgen.« Sie standen noch eine Weile beisammen und gingen dann wieder ins Haus.
»Nimmt Silvia noch Dope?« fragte Leo.
»Dope!« Er lachte. »Luminal. Ja, tut sie.«
»So ein nettes Mädchen«, sagte Leo. »Ein Jammer, daß sie so verkrampft ist und sich ständig Sorgen macht. Und dann hilft sie noch dieser unglücklichen Witwe nebenan, wie du sagst.« Im Wohnzimmer setzte sich Leo in Jacks Sessel, schlug die Beine übereinander und lehnte sich mit einem Seufzer zurück, machte es sich bequem, damit er weiterreden konnte ... er hatte ganz entschieden noch eine Menge zu sagen, zu einer Vielzahl von Themen, und er war entschlossen, es auch zu tun.
*
Silvia lag im Bett und war schon halb eingeschlafen, ihre Wahrnehmung durch die 100-Milligramm-Tablette Luminal getrübt, die sie gewohnheitsmäßig vor dem Schlafengehen genommen hatte. Nebelhaft hatte sie das Stimmengemurmel ihres Mannes und ihres Stiefvaters im Hof gehört; einmal war der Tonfall scharf geworden, und sie hatte sich entsetzt aufgerichtet.