»Zieh mir das Nachthemd wieder an«, murmelte Doreen, »wenn du fertig bist.«
»Ha, ich bin noch lange nicht fertig.« Eine Stunde schaffe ich allemal, sagte sich Arnie. Vielleicht sogar zwei. Außerdem mag ich's irgendwie so. Eine Frau, die schläft, quatscht nicht. Das verdirbt doch nur alles, wenn sie anfangen zu quatschen. Oder wenn sie stöhnen. Das Stöhnen hatte er noch nie ausstehen können.
Er dachte: Ich bin ganz heiß drauf, mit diesem BohlenProjekt zu Potte zu kommen. Ich kann's gar nicht mehr abwarten; ich weiß, daß wir etwas Außergewöhnliches hören werden, wenn wir erst einmal etwas hören. Dieses abgekapselte Bewußtsein des Kindes; man stelle sich nur vor, welche Schätze es birgt. Das muß wie im Märchen sein da drin, wunderschön und rein und wahrhaft unschuldig.
Doreen stöhnte im Halbschlaf.
Neun
Jack legte ein großes grünes Samenkorn in Leo Bohlens Hand. Leo untersuchte es und gab es zurück.
»Was hast du gesehen?« fragte Jack.
»Ich hab gesehen, daß es ein Samenkorn ist.«
»Ist irgendwas passiert?«
Leo überlegte, aber er hatte nicht bemerkt, daß etwas passiert war, also sagte er schließlich: »Nein.«
Vor dem Filmprojektor sitzend, sagte Jack: »Nun paß auf.« Er schaltete das Licht im Zimmer aus, und dann, als der Projektor surrte, erschien ein Bild auf der Leinwand. Es war ein Samenkorn, in Erde eingebettet. Leo sah, wie das Samenkorn aufsprang. Zwei tastende Fühler erschienen; einer richtete sich nach oben, der andere teilte sich in feinste Härchen und tastete über den Boden. Inzwischen drehte sich das Samenkorn im Erdreich. Aus dem aufwärts gerichteten Fühler entfalteten sich gewaltige Triebe, und Leo keuchte auf.
»Wirklich, Jack«, sagte er, »ihr habt schon erstaunliche Samenkörner hier auf dem Mars; sieh nur, wie schnell das geht. Mein Gott, das wächst ja wie verrückt.«
Jack sagte: »Das ist eine ganz gewöhnliche LimaBohne, die gleiche, die ich dir vorhin gegeben habe. Dieser Film läuft im Zeitraffer, fünf Tage in wenigen Sekunden. Wir sehen jetzt, was in einem keimenden Samenkorn vor sich geht; normalerweise verläuft der Prozeß zu langsam, als daß man überhaupt eine Bewegung bemerken kann.«
»Wirklich, Jack«, sagte Leo, »das ist phantastisch. Die Zeitgeschwindigkeit des Kindes ist also die gleiche wie bei diesem Samenkorn. Ich verstehe. Dinge, die wir in Bewegung sehen, würden so rasend schnell um ihn herumsausen, daß sie praktisch unsichtbar wären, und ich wette, er kann langsame Verläufe wie dieses Samenkorn hier wahrnehmen; ich wette, er kann auf den Hof hinausgehen, sich hinsetzen und zuschauen, wie die Pflanzen wachsen, und fünf Tage sind für ihn wie, sagen wir, zehn Minuten für uns.«
Jack sagte: »Das ist jedenfalls die Theorie.« Dann fuhr er damit fort, Leo zu erklären, wie die Kammer funktionierte. Die Erklärung war jedoch mit technischen Details gespickt, die Leo nicht verstand, und er war ein wenig verwirrt, als Jack kein Ende fand. Es war schon elf Uhr, und Jack machte noch immer keine Anstalten, ihn auf den Flug zu den FDR-Bergen mitzunehmen; er schien völlig in seine Aufgabe vertieft zu sein.
»Sehr interessant«, murmelte Leo an einer Stelle.
»Wir nehmen eine Bandaufzeichnung, die mit fünfzehn Inches pro Sekunde aufgezeichnet wurde, und lassen sie für Manfred mit drei Eindrittel Inches pro Sekunde ablaufen. Ein einziges Wort, zum Beispiel >Baum<. Und gleichzeitig werden wir das Bild eines Baums auf die Leinwand werfen und darunter das Wort, ein Standfoto, das wir fünfzehn oder zwanzig Minuten lang beibehalten. Anschließend wird das, was Manfred sagt, bei drei Dreiviertel Inches pro Sekunde aufgezeichnet, und damit wir es hören können, beschleunigen wir es auf das Fünfzehnfache.«
Leo sagte: »Hör mal, Jack, wir müssen uns jetzt für diese Fahrt fertigmachen.«
»Herrje«, sagte Jack, »überlaß das mir.« Er fuchtelte wütend. »Ich dachte, du wolltest ihn treffen - er muß jede Minute hier sein. Sie schickt ihn rüber ...«
Leo unterbrach ihn: »Hör mal, mein Sohn, ich habe Millionen von Meilen zurückgelegt, um mir das Land anzusehen. Fliegen wir jetzt dorthin oder nicht?«
Jack sagte: »Wir warten, bis der Junge da ist, und dann nehmen wir ihn mit.«
»Okay«, sagte Leo. Er wollte es nicht zum Streit kommen lassen; er war bereit nachzugeben, soweit es nur menschenmöglich war.
»Mein Gott, da stehst du nun zum ersten Mal auf der Oberfläche eines anderen Planeten. Ich hätte gedacht, du würdest gern hier herumlaufen, dir den Kanal ansehen, den Graben.« Jack deutete nach rechts hinüber. »Du hast noch nicht einmal einen Blick darauf geworfen, und die Menschen haben die Kanäle seit Jahrhunderten sehen wollen - und über ihr Vorhandensein gestritten!«
Leo war verärgert und nickte pflichtschuldig. »Dann zeig ihn mir eben.« Er folgte Jack aus der Werkstatt hinaus ins trübe rötliche Sonnenlicht. »Kalt«, stellte Leo fest und sog die Luft ein. »Wirklich, hier fällt einem das Gehen richtig leicht; das habe ich schon gestern abend bemerkt. Ich hatte den Eindruck, ich wöge nur zwanzig oder dreißig Kilo. Liegt wohl daran, daß der Mars so klein ist - stimmt's? Muß gut sein für Leute mit Herzproblemen, nur daß die Luft so dünn ist. Gestern abend dachte ich, es wäre das Cornedbeef, das mich ...«
»Leo«, sagte sein Sohn, »sei still und schau dich um, ja?«
Leo schaute sich um. Er sah eine flache Wüste mit kahlen Bergen in weiter Ferne. Er sah einen tiefen Graben mit trägem braunem Wasser und neben dem Graben moosartige Vegetation, grün. Das war alles, außer Jacks Haus und etwas weiter entfernt dem Haus der Steiners. Er sah den Garten, aber den hatte er schon am Abend zuvor gesehen.
»Und?« sagte Jack.
Höflich sagte Leo: »Sehr eindrucksvoll, Jack. Nett habt ihr's hier; ein netter kleiner moderner Ort. Noch ein paar Pflanzen, eine etwas schönere Landschaft, und ich würde sagen, es ist perfekt.«
Mit schelmischem Grinsen sagte Jack: »Das ist ein Millionen Jahre alter Traum, hier zu stehen und das zu sehen.«
»Ich weiß, mein Sohn, und ich bin außerordentlich stolz auf das, was ihr erreicht habt, du und diese tüchtige Frau.« Leo nickte feierlich. »Also, können wir jetzt starten? Du könntest vielleicht zu dem anderen Haus hinübergehen, wo dieser Junge lebt, und ihn holen, oder ist David schon rübergegangen? Vielleicht holt David ihn ja gerade; ich kann ihn nirgends sehen.«
»David ist in der Schule. Er wurde abgeholt, als du noch geschlafen hast.«
Leo sagte: »Es würde mir nichts ausmachen, hinüberzugehen und diesen Jungen zu holen, Manfred oder wie er heißt, wenn du nichts dagegen hast.«
»Nur zu«, sagte Jack. »Ich komme mit.«
Sie gingen an einem schmalen Wassergraben vorbei, überquerten offenes Sandgelände mit vereinzelten farnähnlichen Pflanzen und erreichten das andere Haus. Leo hörte drinnen die Stimmen kleiner Mädchen. Ohne zu zögern, stieg er die Stufen zur Veranda hinauf und klingelte.
Die Tür öffnete sich, und vor ihm stand eine große, blonde Frau mit müden, schmerzerfüllten Augen. »Guten Morgen«, sagte Leo, »ich bin Jack Bohlens Dad; Sie sind sicher die Dame des Hauses. Sagen Sie, wir möchten Ihren Sohn gern auf einen Ausflug mitnehmen und liefern ihn später auch gesund und munter wieder ab.«
Die große Blonde sah an ihm vorbei zu Jack, der ebenfalls auf die Veranda gekommen war; sie drehte sich schweigend um und ging ins Haus zurück. Als sie zurückkehrte, hatte sie einen kleinen Jungen bei sich.
Das ist also der kleine Schizobursche, dachte Leo. Sieht nett aus, man würde im Leben nicht drauf kommen.
»Wir machen eine Reise, junger Mann«, sagte Leo zu ihm. »Wie klingt das?« Dann fiel ihm wieder ein, was Jack ihm über das Zeitgefühl des Jungen erzählt hatte, und er wiederholte das, was er gesagt hatte, ganz langsam, zog dabei jedes einzelne Wort in die Länge.