Er spähte über den Rand des Lochs hinab. Auf dem Grund, im Nichts, räkelte sich eine gekrümmte Gestalt, als wollte sie erlöst werden. Sie wand sich empor, wurde breiter, nahm eckige Formen und Farbe an.
Ich bin in dir, dachte Manfred. Wieder.
Eine Stimme sagte: »Er ist schon länger als alle anderen hier im Am-Web. Er war schon hier, als der Rest von uns kam. Er ist unglaublich alt.«
»Gefällt es ihm?«
»Wer weiß? Er kann weder allein gehen noch sich ernähren. Die Unterlagen gingen im Feuer verloren. Womöglich ist er zweihundert Jahre alt. Sie haben ihm die Gliedmaßen amputiert und natürlich bei seinem Eintritt hier den größten Teil der inneren Organe herausgenommen. Am meisten beklagt er sich über Heuschnupfen.«
Nein, dachte Manfred. Das halte ich nicht aus; meine Nase brennt. Ich kriege keine Luft. Ist das hier der Beginn des Lebens, das mir die schwarze Schattengestalt versprochen hat? Ein neuer Anfang, bei dem ich anders sein werde und mir jemand helfen kann?
Bitte helft mir, sagte er. Ich brauche jemanden, irgendwen. Ich kann nicht ewig hier warten; es muß bald geschehen oder gar nicht. Wenn nichts geschieht, dann werde ich wachsen und zum Weltenloch werden, und das Loch wird alles auffressen.
Das Loch unter dem Am-Web wartete darauf, wie alles zu werden, das oben einherging oder dort jemals einhergegangen war; es wartete darauf, alles und jedes zu sein. Und nur Manfred Steiner hielt es davon zurück.
*
Als Jack Bohlen das leere Glas absetzte, hatte er den Eindruck, sein ganzer Körper zerfiele in kleine Teile. »Wir haben nichts mehr zu picheln«, konnte er noch irgendwie zu dem Mädchen neben sich sagen.
Doreen flüsterte ihm rasch zu: »Jack, erinnere dich daran, daß du Freunde hast. Ich bin dein Freund, Dr. Glaub hat angerufen - er ist dein Freund.« Sie sah ihn besorgt an. »Kommst du wieder in Ordnung?«
»Herrgott noch mal«, brüllte Arnie, »ich will hören, was Sie erreicht haben, Jack. Können Sie mir denn gar nichts sagen?« Neiderfüllt blickte er zu ihnen hinüber; Doreen rückte kaum merklich von Jack ab. »Müßt ihr beiden die ganze Zeit dasitzen, tuscheln und knutschen? Mir ist schon richtig schlecht.« Darauf ließ er die beiden allein und ging in die Küche.
Doreen schmiegte sich an Jack, bis ihre Lippen fast seine berührten, und flüsterte: »Ich liebe dich.«
Er versuchte, sie anzulächeln. Aber sein Gesicht war wie erstarrt; es gab einfach nicht nach. »Danke«, sagte er, weil er sie wissen lassen wollte, wieviel ihm das bedeutete. Er küßte sie auf den Mund. Ihre Lippen waren warm, ganz weich vor Liebe; sie schenkten ihm alles, was sie hatten, und hielten nichts zurück.
Mit Tränen in den Augen sagte sie: »Ich spüre, wie du immer weiter in dich selbst abgleitest.«
»Nein«, sagte er. »Mir geht's prima.« Aber das stimmte nicht; er wußte es.
»Kwatsch kwatsch«, sagte das Mädchen.
Jack schloß die Augen. Ich kann nicht dagegen an, dachte er. Es schlägt endgültig über mir zusammen.
Als er die Augen öffnete, merkte er, daß Doreen vom Sofa aufgestanden war und in die Küche ging. Stimmen, ihre und Arnies, wehten zu ihm herüber.
»Kwatsch kwatsch kwatsch.«
»Kwatsch.«
Jack wandte sich dem Jungen zu, der immer noch auf dem Teppich saß und aus Zeitschriften ausschnitt, und sagte: »Kannst du mich hören? Kannst du mich verstehen?«
Manfred sah kurz hoch und lächelte.
»Sprich mit mir«, sagte Jack. »Hilf mir.«
Es kam keine Antwort.
Jack rappelte sich auf und ging zum Bandgerät; mit dem Rücken zum Zimmer begann er es zu inspizieren. Wäre ich jetzt noch am Leben, fragte er sich, wenn ich auf Dr. Glaub gehört hätte? Wenn ich nicht hergekommen wäre, zugelassen hätte, daß er mich vertritt? Vermutlich nicht. Wie beim vorigen Anfalclass="underline" Es wäre auf jeden Fall passiert. Es ist ein Prozeß, der sich entfalten muß; er mußte bis zum bitteren Ende ablaufen.
Ehe er sich versah, stand er plötzlich auf einem schwarzen, leeren Fußweg. Das Zimmer, die Leute um ihn herum, waren verschwunden; er war allein.
Gebäude, graue, hochaufragende Fassaden zu beiden Seiten. War das hier das Am-Web? Er sah sich voller Panik um. Lichter da und dort; er war in einer Stadt, und nun wurde ihm klar, daß es Lewistown war. Er ging los.
»Warte«, rief eine Stimme, eine Frauenstimme.
Aus dem Eingang eines Gebäudes kam eine Frau im Pelzmantel geeilt; ihre Absätze klapperten auf dem Pflaster und ließen Echos erschallen. Jack blieb stehen.
»So schlecht liefs doch gar nicht«, sagte sie und holte ihn außer Atem ein. »Gott sei Dank ist es jetzt vorbei; du warst so angespannt - ich hab's den ganzen Abend gemerkt. Arnie hat sich über die Neuigkeiten wegen der Genossenschaft furchtbar aufgeregt; sie sind so reich und mächtig, daß er sich dagegen ganz klein vorkommt.«
Sie gingen zusammen ohne bestimmtes Ziel weiter, das Mädchen hatte sich bei ihm untergehakt.
»Und er hat gesagt«, sagte sie, »daß er dich als Mechaniker behalten will; ich bin überzeugt, er meint's ernst. Aber er ist sauer, Jack. Durch und durch. Ich weiß das; ich kann's beurteilen.«
Er versuchte sich zu erinnern, doch es klappte nicht.
»Sag doch was«, flehte Doreen.
Nach einer kleinen Weile sagte er: »Ihn zum Feind zu haben - wäre schlimm.«
»Ich fürchte, da hast du recht.« Sie sah zu ihm hoch. »Wollen wir zu mir gehen? Oder möchtest du noch auf einen Drink irgendwo hin?«
»Laß uns einfach weitergehen«, sagte Jack Bohlen.
»Liebst du mich noch?«
»Natürlich«, sagte er.
»Hast du Angst vor Arnie? Könnte sein, daß er versucht, sich an dir zu rächen, weil - er begreift das mit deinem Vater nicht; er meint, daß du ihn gewissermaßen ...« Sie schüttelte den Kopf. »Jack, er wird es dir heimzahlen wollen; er gibt dir die Schuld. Er ist so unglaublich primitiv.«
»Ja«, sagte Jack.
»Sag etwas«, sagte Doreen. »Du bist wie aus Holz, als wärst du gar nicht lebendig. War es denn so furchtbar? Doch wohl nicht, oder? Du hast dich offenbar sehr zusammengerissen.«
Mühsam sagte er: »Ich - habe keine Angst vor ihm.«
»Würdest du meinetwegen deine Frau verlassen, Jack? Du hast gesagt, du liebst mich. Wir könnten doch wieder zur Erde auswandern oder so.«
Sie gingen zusammen weiter.
Dreizehn
Für Otto Zitte war es, als hätte er endlich wieder Zugang zum Leben; seit Norb Steiners Tod bewegte er sich wie in alten Zeiten über den Mars, machte seine Lieferungen, verkaufte, traf die Menschen von Angesicht zu Angesicht und plauderte mit ihnen.
Und obendrein war er schon einigen gutaussehenden Frauen begegnet, einsamen Hausfrauen, die tagaus, tagein in ihren Häusern in der Wüste in dumpfer Langeweile versanken und sich nach Gesellschaft sehnten ... gewissermaßen.
Bisher war es ihm noch nicht möglich gewesen, bei Mrs. Silvia Bohlens Haus vorbeizuschauen. Aber er wußte genau, wo es lag; er hatte es auf seiner Landkarte eingetragen.
Heute wollte er dorthin.
Aus diesem Anlaß warf er sich in seinen besten Anzug: ein grauer englischer Fischgräten-Einreiher, den er seit Jahren nicht mehr getragen hatte. Die Schuhe waren zu seinem Bedauern von hier, auch das Hemd. Aber der Schlips: ah. Der war gerade erst aus New York eingetroffen, der neueste Schrei in leuchtend frohen Farben; unten teilte er sich wie ein Schwalbenschwanz. Er hielt ihn bewundernd hoch. Dann band er ihn sich um und bewunderte ihn noch einmal.
Sein langes dunkles Haar glänzte. Er fühlte sich glücklich und voller Zuversicht. Heute mache ich einen ganz neuen Anfang, bei einer Frau wie Silvia, sagte er sich, als er seinen Wollmantel anzog, seine Koffer nahm und von der Lagerhalle - aus der er eine richtig gemütliche Bleibe gemacht hatte - zum Hubschrauber spazierte.