»Habe ich Arnie gebeten, den Jungen zu sich zu nehmen? Oder war das seine Idee?«
»Arnie hat es vorgeschlagen. Anfangs warst du nicht einverstanden. Aber du warst schon so - unzugänglich und verschlossen. Es war spät, und wir hatten alle eine Menge gebechert - weißt du das noch?«
Er nickte.
»Bei Arnie gibt es diesen Black Label Jack Daniels. Ich allein hab wohl schon ein Fünftel davon getrunken.« Sie schüttelte traurig den Kopf. »Keiner auf dem Mars hat solchen Stoff wie Arnie; er wird mir fehlen.«
»Auf dem Gebiet habe ich nicht viel zu bieten«, sagte Jack.
»Ich weiß. Schon in Ordnung. Das erwarte ich auch nicht von dir; eigentlich erwarte ich gar nichts. Gestern abend geschah alles so schnell; im einen Moment haben wir noch zusammengearbeitet, du und ich und Arnie -und dann schien auf einmal klar zu sein, daß wir auf verschiedenen Seiten stehen, daß wir nie wieder beisammen sein werden, jedenfalls nichts als Freunde. Das ist schrecklich.« Sie rieb sich mit der Handfläche das rechte Auge. Eine Träne rollte ihr die Wange hinunter. »Himmel, ich weine«, sagte sie ärgerlich.
»Wenn wir zurückgehen und den gestrigen Abend neu leben könnten ...«
»Ich würde es nicht anders machen«, sagte sie. »Ich bedaure nichts. Und das solltest du auch nicht.«
»Danke«, sagte er. Er nahm ihre Hand. »Mit deiner Hilfe werde ich es schaffen. Wie es so schön heißt: Ich bin nicht viel, aber ich bin alles, was ich habe.«
Sie lächelte, und nach einer Weile aß sie weiter.
*
Anne Esterhazy machte gerade auf dem vorderen Ladentisch ihres Geschäfts ein Paket versandfertig. Als sie den Aufkleber ausfüllte, betrat ein Mann den Laden; sie blickte auf und sah ihn, einen hochgewachsenen, dürren Mann mit einer Brille, die ihm viel zu groß war. Die Erinnerung rief Abscheu in ihr wach, als sie Dr. Glaub erkannte.
»Mrs. Esterhazy«, sagte Dr. Glaub, »ich möchte gern mit Ihnen reden, wenn Sie erlauben. Ich bedaure unseren Streit; ich habe mich regressiv verhalten, wie jemand auf der oral-saugenden Stufe, und dafür möchte ich mich entschuldigen.«
Sie sagte kühclass="underline" »Was wünschen Sie, Doktor? Ich habe zu tun.«
Mit leiserer Stimme sagte er hastig und monoton: »Mrs. Esterhazy, es geht um Arnie Kott und ein Projekt, das er mit einem abnormen Jungen aus dem Camp durchführen will. Ich möchte, daß Sie Ihren Einfluß auf Mr. Kott und ihren Eifer in humanitären Fragen nutzen, damit nicht an einem unschuldigen, introvertierten schizoiden Individuum, das lediglich durch sein Arbeitsgebiet in Mr. Kotts Vorhaben hineingezogen wurde, schwerwiegende Grausamkeiten verübt werden. Dieser Mann ...«
»Warten Sie«, unterbrach sie ihn. »Ich kann Ihnen nicht ganz folgen.« Sie winkte ihm, sie in den hinteren Bereich des Ladens zu begleiten, wo keiner, der zufällig hereinkäme, sie hören konnte.
»Dieser Mann, Jack Bohlen«, sagte Dr. Glaub noch atemloser als vorher, »könnte als Ergebnis von Kotts Rachegelüsten einer permanenten Psychose verfallen, und ich bitte Sie, Mrs. Esterhazy ...« Er bettelte und flehte.
Ach, du meine Güte, dachte sie. Noch eine gute Sache, für die ich mich einsetzen soll - habe ich davon nicht schon genug?
Aber sie hörte zu; es blieb ihr nichts anderes übrig. Außerdem lag es in ihrer Natur.
Dr. Glaub plapperte immer weiter, und allmählich begann sie eine Vorstellung von der Lage zu entwickeln, die er zu schildern versuchte. Es war klar, daß er gegen Arnie einen Groll hegte. Und doch - es steckte noch mehr dahinter. Dr. Glaub war eine merkwürdige Mischung aus Idealist und kindischem Neider, irgendwie ein komischer Kauz, dachte Anne Esterhazy beim Zuhören.
»Ja«, sagte sie an einer Stelle, »das klingt ganz nach Arnie.«
»Ich wollte schon zur Polizei gehen.« Dr. Glaub schwatzte weiter. »Oder zu den UN-Behörden, und dann dachte ich an Sie, also bin ich hergekommen.« Er sah sie eindringlich an, verschlagen, aber durchaus entschlossen.
*
Um zehn Uhr an diesem Morgen betrat Arnie Kott das Büro der Yee Company in Bunchewood Park. Ein großgewachsener, intelligent aussehender Chinese Ende Dreißig näherte sich ihm und fragte nach seinen Wünschen.
»Ich bin Mr. Yee.« Sie schüttelten sich die Hand.
»Dieser Bohlen, den ich von Ihnen gemietet habe.«
»Ach ja. Ist er nicht ein erstklassiger Mechaniker? Natürlich ist er das.« Mr. Yee sah ihn gewieft und argwöhnisch an.
Arnie sagte: »Er gefällt mir so gut, daß ich Ihnen gern den Vertrag abkaufen möchte.« Er zückte sein Scheckheft. »Nennen Sie mir den Preis.«
»Oh, Mr. Bohlen müssen wir behalten«, protestierte Mr. Yee mit erhobenen Händen. »Nein, Sir, wir können ihn vermieten, aber uns nicht endgültig von ihm trennen.«
»Sagen Sie schon, was Sie haben wollen.« Du hageres, durchtriebenes Schlitzohr, dachte Arnie.
»Uns von Mr. Bohlen trennen - wir könnten ihn doch nie ersetzen!«
Arnie wartete.
Mr. Yee überlegte: »Ich könnte ja einmal unsere Unterlagen durchgehen. Aber es würde Stunden dauern, auch nur annähernd Mr. Bohlens Wert festzustellen.«
Arnie wartete, das Scheckheft in der Hand.
*
Nachdem Arnie Kott Jack Bohlens Arbeitsvertrag der Yee Company abgekauft hatte, flog er wieder heim nach Lewistown. Er fand Helio gemeinsam mit Manfred im Wohnzimmer vor; Helio las dem Jungen laut aus einem Buch vor. »Was soll dieser Hokuspokus?« wollte Arnie wissen.
Helio ließ sein Buch sinken und sagte: »Das Kind hat eine Sprachstörung, die ich beseitigen werde.«
»Blödsinn«, sagte Arnie, »die wirst du nicht beseitigen.« Er zog seinen Mantel aus und hielt ihn Helio hin. Nach einer Weile legte der Bleichmann das Buch widerstrebend zur Seite und nahm den Mantel entgegen; er ging fort, um ihn in die Garderobe zu hängen.
Manfred schien Arnie aus dem Augenwinkel zu mustern.
»Wie geht's, Kleiner?« sagte Arnie mit freundlicher Stimme. Er gab dem Jungen einen Klaps auf den Rücken. »Hör zu, willst du in dieses Irrenhaus zurück, dieses nutzlose Camp B-G? Oder willst du bei mir bleiben? Ich geb dir zehn Minuten, dich zu entscheiden.«
Bei sich dachte Arnie: Du bleibst bei mir, ganz gleich, wie deine Entscheidung ausfällt. Du verrücktes, dämliches kleines Balg, du und dein Herumgetänzel auf Zehenspitzen, dein Schweigen und Jedermann-Ignorieren. Seit gestern abend steht für mich zweifelsfrei fest, daß irgendwo tief drin in deinem Spatzengehirn das Talent schlummert, in die Zukunft zu sehen.
Helio kam zurück und sagte: »Er will bei Ihnen bleiben, Herr.«
»Nichts lieber als das«, sagte Arnie erfreut.
»Seine Gedanken«, sagte Helio, »sind für mich glasklar, so wie meine für ihn. Wir sind beide Gefangene, Herr, in Feindesland.«
Darüber lachte Arnie laut und lange.
»Wahrheit amüsiert den Unwissenden«, sagte Helio.
»Okay«, sagte Arnie, »ich bin also unwissend. Es macht mir einfach nur höllisch viel Spaß zu sehen, daß du dieses irre Kind magst, das ist alles. Nichts für ungut. Ihr habt also etwas gemeinsam, ihr zwei? Das erstaunt mich nicht.« Er schnappte sich das Buch, aus dem Helio vorgelesen hatte. »Pascal«, las er. »Provinzialbriefe. Jesus im Himmel, was soll das denn? Ergibt das überhaupt einen Sinn?«
»Die Rhythmen«, sagte Helio geduldig. »Große Prosa hat eine Phrasierung, die auf die umherschweifende Aufmerksamkeit des Jungen wirkt und sie festhält.«
»Wieso schweift sie umher?«
»Aus Angst.«
»Angst wovor?«
»Vor dem Tod«, sagte Helio.
Ernüchtert sagte Arnie: »Aha. So, so ... vor dem eigenen Tod? Oder vor dem Tod im allgemeinen?«
»Der Junge durchlebt sein eigenes Alter, sieht sich im Zustand des Verfalls in Jahrzehnten in einem Seniorenheim liegen, das hier auf dem Mars erst noch gebaut werden muß, ein Ort des Niedergangs, den er über alle Maßen verabscheut. An diesem künftigen Ort verbringt er bettlägrig leere Jahre der Schwäche - ein Objekt, kein Mensch mehr, am Leben erhalten durch stupide Gesetze. Sobald er versucht, seine Aufmerksamkeit auf die Gegenwart zu richten, wird er gleich wieder von dieser entsetzlichen Vision seiner selbst heimgesucht.«