»Es wird jetzt keine andere - Wahl mehr geben«, sagte Silvia. »Nicht wahr, Jack? Das darf einfach nicht sein.«
»Nie wieder«, sagte er und nickte nachdrücklich.
Da kam sie zu ihm an den Tisch, beugte sich vor und küßte ihn auf die Stirn.
»Danke«, sagte er und faßte sie am Handgelenk. »Das tut gut.« Sie spürte, wie erschöpft er war; es ging von ihm auf sie über.
»Du mußt erst mal ordentlich was essen«, sagte sie. »Ich habe dich noch nie so - ausgelaugt gesehen.« Ihr kam der Gedanke, daß er vielleicht wieder einen Anfall von Geisteskrankheit, von Schizophrenie, gehabt hatte, wie früher; das würde manches erklären. Aber sie wollte ihn mit diesem Thema nicht behelligen; statt dessen sagte sie: »Wir gehen heute abend früh zu Bett, ja?«
Er nickte unbestimmt und nippte an seinem Eistee.
»Bist du jetzt froh?« wollte sie wissen. »Daß du zurück bist?« Oder hast du es dir schon wieder anders überlegt? dachte sie.
»Ich bin froh«, sagte er, und sein Ton war fest und bestimmt. Offenbar meinte er es auch so.
»Du mußt noch zu Großvater Leo gehen, ehe er abfliegt ...« begann sie.
Ein Schrei ließ sie hochfahren, sie sah Jack an.
Er war aufgesprungen. »Nebenan. Das Haus der Steiners.« Er drückte sich an ihr vorbei; sie rannten beide nach draußen.
An der Haustür der Steiners trafen sie auf eines der Steiner-Mädchen. »Mein Bruder ...«
Sie und Jack drängten sich an dem Kind vorbei ins Haus. Silvia begriff nicht, was sie sah, Jack schon; er faßte sie an der Hand und hielt sie zurück.
Das Wohnzimmer war voller Bleichmänner. Und in ihrer Mitte erblickte sie den Teil eines Lebewesens, einen alten Mann, nur von der Brust an aufwärts; der Rest bestand aus einem Wirrwarr von Pumpen, Schläuchen und Skalen, eine Maschinerie, die unaufhörlich klickte und am Machen und Tun war. Sie erhielt den alten Mann am Leben; das wurde ihr sofort klar. Die Maschinerie hatte seine fehlende Hälfte ersetzt. O Gott, dachte sie. Wer oder was war das, was da mit einem Lächeln auf dem verwitterten Gesicht hockte? Jetzt sprach es sie auch noch an.
»Jack Bohlen«, schnarrte es, und seine Stimme drang aus einem mechanischen Lautsprecher, aus der Maschinerie: nicht aus seinem Mund. »Ich bin hier, um meiner Mutter Lebewohl zu sagen.« Es hielt inne, und sie hörte, wie die Maschinerie schneller lief, als plagte sie sich. »Jetzt kann ich dir danken«, sagte der alte Mann.
Jack, der neben ihr stand und ihre Hand hielt, sagte: »Wofür? Ich habe nichts für dich getan.«
»Doch, ich finde schon.« Das Ding, das da hockte, nickte den Bleichmännern zu, und sie schoben es mit seiner Maschinerie näher an Jack heran und richteten es so aus, daß es ihm direkt ins Gesicht sah. »Meiner Meinung nach ...« Es verstummte und setzte dann erneut an, diesmal lauter. »Du hast vor vielen Jahren versucht, mit mir Verbindung aufzunehmen. Dafür bin ich dir dankbar.«
»Es ist nicht so lange her«, sagte Jack. »Hast du es vergessen? Du bist zu uns zurückgekehrt; es war erst heute. Das hier ist deine ferne Vergangenheit, als du noch ein Junge warst.«
Sie sagte zu ihrem Mann: »Wer ist das?«
»Manfred.«
Sie schlug die Hände vors Gesicht und bedeckte ihre Augen; sie konnte den Anblick nicht länger ertragen.
»Bist du dem AM-WEB entronnen?« fragte Jack ihn.
»Jaaa«, zischte er mit einem freudigen Vibrieren in der Stimme. »Ich bin bei meinen Freunden.« Er deutete auf die Bleichmänner, die ihn umgaben.
»Jack«, sagte Silvia, »bring mich hier raus - bitte, ich halte das nicht mehr aus.« Sie klammerte sich an ihn, und so führte er sie aus dem Haus der Steiners wieder in die Dunkelheit des Abends hinaus.
Leo und David kamen ihnen entgegen, aufgeregt und erschrocken. »Sag mal, mein Sohn«, meinte Leo, »was ist denn passiert? Wieso hat diese Frau so geschrien?«
Jack sagte: »Es ist vorbei. Alles in Ordnung.« Zu Silvia sagte er: »Sie muß nach draußen gerannt sein. Sie hat es anfangs gar nicht begriffen.«
Schaudernd sagte Silvia: »Ich begreifs auch nicht und will es überhaupt nicht begreifen; versuch nicht, es mir zu erklären.« Sie kehrte an den Herd zurück, drehte die Flammen kleiner und schaute in die Töpfe hinein, um festzustellen, ob etwas angebrannt war.
»Mach dir keine Sorgen«, sagte Jack und tätschelte ihre Schulter.
Sie versuchte zu lächeln.
»Es wird wahrscheinlich nie wieder geschehen«, sagte Jack. »Und selbst wenn ...«
»Danke«, sagte sie. »Auf den ersten Blick habe ich ihn für seinen Vater gehalten, Norbert Steiner; darum habe ich auch so einen Schreck bekommen.«
»Wir müssen eine Taschenlampe holen und Erna Steiner suchen«, sagte Jack. »Wir müssen uns vergewissern, daß ihr nichts zugestoßen ist.«
»Ja«, sagte sie. »Geht nur, du und Leo, während ich das hier fertigmache; ich muß am Herd bleiben, sonst brennt das Essen an.«
Die beiden Männer nahmen eine Taschenlampe und verließen das Haus. David blieb bei ihr und half, den Tisch zu decken. Wo wirst du dich aufhalten? fragte sie sich, als sie ihrem Sohn zusah. Wenn du erst einmal so alt bist, alles abgehackt ist und durch eine Maschinerie ersetzt wurde ... Wirst du genauso sein?
Wir sind besser dran, wenn wir die Zukunft nicht vorhersagen können, sagte sie sich. Gott sei Dank wissen wir nichts darüber.
»Ich wäre so gern mitgegangen«, beklagte sich David. »Wieso sagst du mir nicht, warum Mrs. Steiner so furchtbar geschrien hat?«
Silvia sagte: »Eines Tages vielleicht.«
Aber nicht jetzt, sagte sie sich. Es ist noch zu früh, für uns alle.
Das Abendessen war jetzt fertig, und unwillkürlich ging sie auf die Veranda, um Jack und Leo zu rufen, obwohl sie schon wußte, daß sie nicht kommen würden; sie waren viel zu beschäftigt, sie hatten zuviel zu tun. Aber sie rief sie trotzdem, weil das ihre Aufgabe war.
In der Dunkelheit der Marsnacht suchten ihr Mann und ihr Schwiegervater nach Erna Steiner; hier und da blitzte die Lampe auf, und man konnte die Stimmen hören, sachlich, fachmännisch und geduldig.
Nachwort
Im vorletzten Kapitel von Pu der Bär stechen Christopher Robin und Pu in See, um Ferkel zu retten, und zwar in einem Schiff (eigentlich ein umgedrehter Regenschirm), das »Pus Verstand« heißt. Das ist insofern bemerkenswert, da der besondere Zauber der Pu-Geschichten darin besteht, daß wir die Gelegenheit bekommen, uns für eine Weile in Pus Kopf aufzuhalten. So wie die nahezu unwiderstehliche Anziehungskraft der Science-Fiction-Romane von Philip K. Dick darin besteht, daß wir die Gelegenheit bekommen, in Phils Kopf herumzureisen und vielleicht sogar einen rettenden Hafen dort zu finden.
Seit dem psychotischen Erlebnis mit dem Personalchef bei Corona Corporation hatte ein Gedanke ihn ständig verfolgt: Angenommen, es war keine Halluzination gewesen? Angenommen, der sogenannte Personalchef war genau das, was er in ihm gesehen hatte, ein künstliches Gebilde, eine Maschine wie diese Lehrmaschinen?
Wenn das zutraf, dann gab es gar keine Psychose.
Statt um eine Psychose, ging es ihm immer wieder durch den Kopf, hatte es sich eher um eine Art Vision gehandelt, ein kurzes Aufglimmen totaler Realität, der man die Maske vom Gesicht gerissen hatte. Und das war ein so vernichtender, ein so radikaler Gedanke, daß er nicht mit seinen sonstigen Auffassungen zusammenpaßte. Und daraus war die Geistesverwirrung entstanden.
- Marsianischer Zeitsturz
Philip K. Dick war der Dostojewski, der große Fragende, der zweifelnde Prophet der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Wie wohl kein anderer Schriftsteller seiner Zeit ergründete er die große Ambivalenz der menschlichen Existenz, das Dilemma des Individuums, das seinen Platz einzunehmen versucht in einer schwer zu erfassenden Wirklichkeit und einer sich mit rasender Geschwindigkeit wandelnden Zeit.