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Hm. Höchstwahrscheinlich hat er ihn doch bemerkt, weil er die Handlung sehr bedacht in die Vorzeitigkeit verlegt, wenn er in Kapitel fünf Jack Bohlen beschreibt, wie dieser sich erinnert an seine schizophrene Halluzination angesichts dieses Personalchefs: »Der Mann war tot ... Die verdorrten Organe hatte man durch künstliche Bauteile ersetzt ... alles bestand aus Plastik und rostfreiem Stahl.« Dem folgt eine etwas weniger dramatische Szene in Kapitel sieben: »(Jack) sah den Psychiater im Licht absoluter Realität: ein Ding, aus kalten Drähten und Schaltern zusammengesetzt, keinesfalls ein Mensch, nicht aus Fleisch und Blut geschaffen.« Weniger dramatisch, weil Jack jetzt damit »klarkommt«, er verschweigt einfach seine Vision, der Psychiater bemerkt das momentane Entsetzen des Mannes nicht, ebensowenig sein Boss Arnie ... aber die junge Frau, Doreen, deren Bruder schizophren war, bemerkt sehr wohl, was in Jack vorgeht, und reagiert mit Interesse und Anteilnahme. »Ich würde jeden gern an der Nase herumführen«, erzählt er ihr, wenn sie allein sind, denn sollte er ehrlich sein, müßte er sagen: »Doc, ich sehe Sie im Licht der Ewigkeit, und Sie sind tot.«

Die autobiographische Parallele, auf die ich anspielte, beschreibt Dick selbst in einem Interview im Jahr 1977:

Ich erinnere mich, wie ich, noch als Teenager, bei einem Psychiater war - ich hatte Probleme in der Schule -, und ich erzählte ihm, daß ich mich seit einiger Zeit fragte, ob unser Wertesystem - was richtig ist und was falsch - eine absolute Wahrheit darstellte oder bloß etwas kulturell Bedingtes. Und er sagt: »Das ist ein Symptom deiner Neurose, daß du die Werte Richtig und Falsch anzweifelst.« Ich besorgte mir daraufhin eine Ausgabe der englischen Zeitschrift Nature ... und da gab's einen Artikel, in dem gesagt wurde, daß unsere Werte im Grunde genommen alle von der Bibel abgeleitet worden waren und empirisch nicht verifiziert werden können und daß sie daher in die Kategorie des Nicht-Begründbaren und NichtBeweisbaren fallen. Ich zeigte ihn dem Arzt, und er wurde richtig böse und sagte: »Das ist nichts als Dreck. Dreck, sage ich!« Wenn ich jetzt zurückblicke, sehe ich, daß dieser Mann völlig zementiert war, eine vollzementierte primitive Gußform. Ich meine, sein Gehirn war tot für meine Begriffe. Irgendwo auf seinem Lebensweg war sein Kopf zubetoniert. Er dachte, gewisse Dinge sind absolut richtig, empirisch richtig. Psychiater sind naive Philosophen. Die meisten jedenfalls. Mit Ausnahme von Laing und so weiter.

Wie lernen wir nun Dr. Glaub in Marsianischer Zeitsturz kennen? Bei seinem ersten Auftritt im Roman (er wird beschrieben als »groß, schlank, in weißem Kittel, in der Hand ein Klemmbrett«) trifft er auf Norbert Steiner (die Perspektivfigur in dieser kurzen Szene), den unglücklichen Vater des autistischen Jungen Manfred Steiner. Manfred lebt im Ben-Gurion-Camp, einem Heim für »anomale Kinder« im israelischen Sektor des kolonisierten Mars. Dr. Glaub ist der Anstaltspsychologe im B-G-Camp. Bei seinem ersten Erscheinen beeindruckt er den Leser mit seinem Einfühlungsvermögen und seinem Engagement; er berichtet begeistert von einer neuen Theorie über Autismus als eine Art »Störung der Zeitwahrnehmung«, von der er glaubt, daß sie es ihm ermöglichen wird, Manfred dabei zu helfen, ein normales und glücklicheres Leben zu führen. Dr. Glaubs Zuversicht steht im Kontrast zur pessimistischen Haltung von Manfreds Vater: »>Träumereien<, unterbrach Steiner. >Sie werden nie mit meinem Sohn in Verbindung treten können.< Er wandte sich um und ließ Dr. Glaub stehen.«

Hier am Anfang wird Glaub porträtiert als umsichtiger, intellektuell versierter Wissenschaftler und Arzt - ein Symbol, wenn man denn so will, der Hoffnung. Wenn er dann einige Seiten später erneut auftaucht, ist er die Perspektivfigur (Philip K. Dick war ein Meister des Perspektivenwechsels), und wir stellen fest, wie dieses Symbol der Hoffnung im Innern von Unzufriedenheit und nur allzu menschlichen Geldsorgen gequält wird. Der »beste Psychiater auf dem Mars« wird also nicht so sehr als Autorität gezeigt (tatsächlich hat er selbst seine Mühe mit dem autoritären Arnie Kott, der die Macht hat, ihn, wenn er wollte, anzuheuern und seine finanzielle Not ein für allemal zu beheben), sondern als sympathisch und menschlich und, wie Joe Chip, irgendwie komisch.

Und weil er eine Philip-K.-Dick-Figur ist, bleibt die Sicht des Erzählers (und damit des Lesers) auf Glaub nicht darauf beschränkt. In einer dramatischen Szene sieht ihn nicht nur Jack als ein aus kalten Drähten und Schaltern zusammengesetztes Etwas, sondern auch Jacks vornehme Freundin Doreen (da sie darauf fixiert ist zu beobachten, wie die Leute auf Arnies Macht reagieren) bemerkt, wie neidisch der Doktor auf Jack ist, der scheinbar problemlos sein Auskommen bei dem großen Boss gefunden hat. Von da an geht es bergab mit dem besten Psychiater auf dem Mars, wird er immer mehr zu einem neurotischen, wenig liebenswerten oder wenigstens eindeutig schwachen Menschen. Die Figuren in Dicks Romanen wechseln die Rollen je nachdem, wie sich die Sicht des Erzählers ändert, durch die Sicht der anderen Figuren auf sie; aber auch, wie die Figuren sich selbst sehen, ändert sich. Nichts ist dauerhaft. Sieht man mal ab von gewissen schwer zu definierenden menschlichen Werten und von einer alles unterminierenden Ungewißheit über den wahren Sinn von Vernunft, Realität und richtigem Handeln.

»Was ist hier los???« Diese Frage stellt sich in einem subjektiven wie objektiven Sinn, und wir sehen, wie die kollektive Sicht auf die Wirklichkeit selbst Gestalt annimmt und sich verändert, selbst wenn die einzelnen Figuren nicht diese kollektive Sicht teilen können und ihre Sichtweise selbst dauerndem Wechsel unterworfen ist ...

In einem wunderbar Dickschen satirischen Intermezzo in Kapitel vier erfahren wir, daß man auf dem Mars, oder in dieser zukünftigen Welt, Psychiater als Double für unliebsame öffentliche Auftritte mieten kann: »>Ich weiß es wirklich zu schätzen, daß Sie an meiner Stelle [zu der Party] gehen wollen, Doc. Ihr Psychiater nehmt einem eine ungeheure Last ab; ich scherze nicht, wenn ich sage, daß ich deswegen schon schlaflose Nächte hatte.< ... >Zerbrechen Sie sich darüber nicht weiter den Kopf<, sagte Dr. Glaub. Schließlich, dachte er, was ist schon so eine kleine Schizophrenie? Das ist es nämlich, was dir fehlt ... Ich befreie dich von deinem gesellschaftlichen Druck, und du kannst weiter in deinem chronischen Zustand unzureichender Anpassung verharren, wenigstens ein paar Monate lang. Bis die Gesellschaft wieder mit einer dramatischen Forderung an dich herantritt, die deine begrenzten Fähigkeiten übersteigt ...«

Die Figuren in Marsianischer Zeitsturz wechseln also nicht nur ihre Rollen (gut - böse, Freund - Feind etc.), sie können sich auch noch gegenseitig anheuern, um Rollen füreinander zu spielen. Bekäme Arnie Kott Wind davon, daß es einen Philip K. Dick gäbe, er würde es wohl auch schaffen, ihn zu bestechen, damit er den Plot des Romans zu seinen Gunsten abändert. Und Phil gibt zu bedenken, daß er in diesem Fall so käuflich wie jede einzelne seiner Figuren wäre; er nimmt für sich keine moralische Überlegenheit in Anspruch, nur weil er der Autor ist ...