Erster Theil.
Erstes Capitel.
Die Brieftaube.
Triest, die Hauptstadt des Küstenlandes, theilt sich in zwei einander sehr wenig gleichende Städte: in eine neue und reiche, die Theresienstadt, die sich geradlinig am Rande der Bai erhebt, welcher der Mensch erst den festen Baugrund abringen mußte, und in eine alte, armselige; letztere ist unregelmäßig gebaut und liegt eingeklemmt zwischen dem Corso, der sie von der ersteren trennt, und den Abhängen der Höhen des Karst, dessen Gipfel eine malerisch ausschauende Citadelle krönt.
In den Hafen von Triest hinein ragt der Molo von San Carlo, an dem vorzugsweise die Handelsschiffe ankern. Dort sammeln sich mit Vorliebe, und oftmals in beunruhigender Anzahl, Gruppen von jenen Umherlungerern, welche nicht Haus und nicht Herd kennen, und deren Anzüge, Beinkleider, Jacken oder Westen der Taschen völlig entbehren könnten, weil ihre Eigenthümer niemals etwas besessen haben, was sie dort hinein hätten thun können und wahrscheinlich auch niemals dergleichen besitzen werden.
An jenem Tage aber, dem 18. Mai 1867, hat Einer oder der Andere vielleicht doch zwei Personen inmitten dieser Heimatlosen bemerkt, welche durch bessere Kleidungen sich auszeichneten. Es schien wenig wahrscheinlich, daß diese jemals wegen fehlender Gulden und Kreuzer in Verlegenheit gewesen waren, wenigstens sprach ihr Aussehen zu ihren Gunsten. Es waren, um der Wahrheit die Ehre zu geben, Männer, die auf Jeden einen günstigen Eindruck machen mußten.
Der Eine hieß Sarcany und nannte sich Tripolitaner, der Andere, ein Sicilianer, wurde Zirone gerufen. Nachdem Beide den Molo wenigstens zum zehnten Male abgeschritten hatten, machten sie auf der äußersten Spitze desselben Halt. Dort blickten sie nach dem Meere hinüber, welches westlich vom Golf von Triest den Horizont begrenzt, als müßte dort plötzlich das Schiff auftauchen, welches ihnen ihr Glück bringen sollte.
»Wie spät ist es?« fragte Zirone in seinem italienischen Dialect, den sein Gefährte ebenso geläufig sprach wie die Mundarten der übrigen Länder am Mittelmeer.
Sarcany gab keine Antwort.
»Was bin ich doch für ein Dummkopf! rief der Sicilianer. Es ist die Stunde, in der man Hunger verspürt, wenn man sein Frühstück einzunehmen vergessen hat.«
Die österreichischen, italienischen, slavischen Elemente zeigen sich in jenem Theile des österreichisch-ungarischen Reiches so miteinander vermischt, daß das Zusammenstehen unserer beiden Personen in keiner Weise die Aufmerksamkeit auf sich ziehen konnte, obwohl sie augenscheinlich sich als Fremde in jener Stadt aufhielten. Ueberdies konnte Niemand ahnen, daß ihre Taschen leer waren, denn sie trugen sich ziemlich stolz unter dem Kapuzenmantel, der ihnen bis auf die Stiefel hinabreichte.
Sarcany, der Jüngere von ihnen, von mittlerer Größe und gut gewachsen, mit eleganten Manieren und Bewegungen, stand im fünfundzwanzigsten Lebensjahre. Sarcany hieß er, ohne einen weiteren Zusatz. Einen Taufnamen führte er nicht. Und er war auch thatsächlich nicht getauft, da er, Afrikaner von Geburt, aus Tripolis oder Tunis stammte; trotzdem seine Gesichtsfarbe von einem dunklen Braun war, so glich er dennoch durch die Regelmäßigkeit der Züge mehr einem Weißen als einem Neger.
Wenn jemals eine Physiognomie täuschen kann, so war es bei Sarcany gewiß der Fall. Man hätte schon ein sehr scharfer Beobachter sein müssen, um aus diesem regelmäßig geformten Gesicht, den schwarzen und schönen Augen, der edlen Nase, dem wohlgeformten und von einem schwachen Barte beschatteten Munde die grenzenlose Verschlagenheit des jungen Mannes herauslesen zu können. Kein Auge wäre im Stande gewesen, auf diesem fast unbeweglichen Antlitze die Zeichen des Abscheu’s, der Mißachtung zu erkennen, welche ein unentwegter Kampf gegen die Gesetze der Gesellschaft ihm einzugraben pflegt. Wenn die Physiognomiker behaupten – und zwar behalten sie in den meisten Fällen Recht – daß Jeder, der sich verstellt, seiner Geschicklichkeit zum Trotze, gegen sich selbst zeugt, so stellte Sarcany dieser Behauptung eine förmliche Verneinung entgegen. Wer ihn sah, konnte nicht ahnen, was er war, was er gewesen. Seine Erscheinung rief in nichts den unbezwingbaren Widerwillen wach, den Spitzbuben und Räuber einzuflößen pflegen. Er war deshalb nur um so gefährlicher.
Wer konnte wissen, was die Kindheit Sarcany’s gewesen war? Gewiß die eines Ausgesetzten. Wie war er erzogen worden und von wem? In welcher tripolitanischen Höhle hatte er in den ersten Jahren seines Lebens sein Dasein gefristet? Welche Aufmerksamkeit bewahrte ihn vor den vielfachen, zerstörenden Krankheiten jenes entsetzlichen Klimas? Niemand fürwahr, wußte es zu sagen – vielleicht er selbst nicht einmal –; geboren durch Zufall, dem Zufalle überlassen, schien er bestimmt, dem Zufalle zu leben! Er hatte indessen während seiner Jünglingszeit eine gewisse praktische Bildung sich bereits anzueignen oder vielmehr zu empfangen gewußt; er dankte sie wahrscheinlich dem Umstande, daß sein bisheriges Leben ihn gezwungen hatte, die Welt zu durchstreifen, mit Leuten jeden Standes Gemeinschaft zu haben, Ausweg auf Ausweg zu finden, und wäre es nur, um des Tages Nothdurft zu befriedigen. So war er und in Folge verschiedener Umstände seit Jahren bereits mit einem der reichsten Häuser Triests in Verbindung gekommen, dem Hause des Banquiers Silas Toronthal, dessen Name mit dem Verlaufe unserer Geschichte eng verknüpft ist.
In dem Gefährten Sarcany’s, dem Italiener Zirone, erblickt man nur einen von jenen Menschen, die Glauben und Gesetz nicht kennen, einen Abenteurer, der, zu allen Schandthaten bereit, dem ersten besten, wenn er gut zahlt, oder dem Nächsten, der noch besser zahlt, zu Diensten steht, gleichviel zu welchem Geschäfte. Sicilianer von Geburt und in den dreißiger Jahren stehend, war er ebenso fähig, schlechte Rathschläge zu ertheilen, als sie anzunehmen und namentlich, sie auszuführen. Wo er geboren wurde, würde er vielleicht verrathen haben, wenn er es gewußt hätte. Er gestand jedenfalls nicht gern ein, wo er zu Hause war, wenn er es überhaupt irgendwo war. In Sicilien hatte ihn eine von den Zufälligkeiten des Landstreicherlebens mit Sarcany in Verbindung gebracht. Sie waren dann gemeinsam in die Welt hinausgelaufen und hatten versucht, auf rechtem und auf unrechtem Wege ihr beiderseitiges Mißgeschick zu gemeinsamem Glück zu wenden. Zirone aber, ein großer, bärtiger Bursche mit sehr gebräuntem Teint und tiefschwarzem Haar, hatte nur mühsam die ihm angeborene Schurkerei zu verbergen gewußt, die seine stets halb geschlossenen Augen und das beständige Senken seines Kopfes verriethen. Unter einem Uebermaße von Schwatzhaftigkeit indessen suchte er seine Verschlagenheit zu verbergen. Er war im Uebrigen mehr heiter als traurig und ließ sich in demselben Maße gehen, als sein Genosse sich verschlossen zeigte.
An dem genannten Tage aber sprach auch Zirone nur mit einer bemerkbaren Mäßigung. Die Essensfrage erfüllte ihn sichtlich mit Unruhe. Der Abend vorher hatte gelegentlich einer kleinen Partie in einer Spielhölle niedrigen Ranges, woselbst sich das Glück allzu stiefmütterlich gezeigt, die Hilfsquellen Sarcany’s völlig erschöpft. Beide wußten nicht, was nun werden sollte. Sie konnten nur auf den Zufall rechnen, und da diese Vorsehung der Lumpen sich nicht beeilte, auf dem Wege längs des Molos zu ihnen zu stoßen, so entschlossen sie sich, ihr durch die Straßen der Neustadt vorauszuwandern.
Dort auf den Plätzen, auf den Quais, auf den Promenaden diesseits und jenseits des Hafens, an den Landungsstellen des großen Canals, der Triest durchschneidet, geht, kommt, stößt sich, haftet und müht sich im Eifer des Geschäftes eine Bevölkerung von siebzigtausend Einwohnern italienischer Abstammung, deren Sprechweise, welche auch diejenige Venedigs ist, sich in dem kosmopolitischen Sprachenconcerte aller dieser Seeleute, Kaufleute, Commis, Handwerker verliert, in dem Idiome, das aus dem Deutschen, Französischen, Englischen und Slavischen hervorgegangen zu sein scheint.