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Mathias Sandorf und seine beiden Freunde fuhren fort, über das Unerklärliche bei ihrer Verhaftung und Verurtheilung zu sprechen, bis die Nacht hereinbrach.

Am nächsten Morgen wurden sie durch den Eintritt des Wächters aus ihrem tiefen Schlummer geweckt. Ihr vorletzter Tag brach an. Vierundzwanzig Stunden später sollte die Hinrichtung stattfinden.

Stephan Bathory fragte den Mann, ob es ihm gestattet sein würde, seine Familie noch einmal bei sich zu sehen.

Der Wächter antwortete, daß er in dieser Richtung keine Verhaltungsmaßregeln empfangen hätte. Es war übrigens nicht sehr wahrscheinlich, daß die Regierung den Verurtheilten diesen letzten Trost gewähren würde, weil die Angelegenheit bis zum Tage des Urtheils ganz geheim behandelt und der Name der Festung, welche den Verbrechern als Gefängniß diente, nicht einmal genannt worden war.

»Können wir nicht wenigstens schreiben und werden unsere Briefe ihre Bestimmungsorte erreichen? fragte Graf Sandorf.

– Ich will Ihnen Papier, Feder und Tinte zur Verfügung stellen, antwortete der Wächter, und ich verspreche Ihnen, Ihre Briefe in die Hände des Gouverneurs zu legen.

– Wir danken Ihnen, mein Freund, sagte der Graf, weil Sie Alles für uns thun, so weit Sie es können. Was unsere Erkenntlichkeit anbelangt, so….

– Ihr Dank genügt mir, meine Herren,« antwortete der Wächter, der seine Rührung nicht verbergen konnte.

Der brave Mann zögerte nicht, das Gewünschte herbeizubringen und die Verurtheilten brachten einen Theil des Tages damit zu, ihre letztwilligen Verfügungen zu treffen. Graf Sandorf ertheilte mit dem Herzen eines besorgten Vaters seinem Töchterchen, das nun eine Waise wurde, seine Rathschläge; Stephan Bathory legte die volle Liebe des Gatten und Vaters in dem Lebewohl nieder, welches er seiner Frau und seinem Knaben übersandte; Ladislaus Zathmar schrieb, was nur ein Herr seinem alten Diener und einzigen Freunde schreiben kann.

Aber so in Anspruch genommen sie auch von ihrer Arbeit waren, so unzählige Male horchten sie dennoch im Verlaufe des Tages auf jedes ferne Geräusch, welches durch den Flur des Wartthurmes schallte. Wie oft schien sich ihnen die Thüre der Zelle öffnen zu wollen und es ihnen gestattet zu sein, ihre Frau, ihren Knaben, ihr Mädchen noch einmal umarmen zu dürfen. Das wäre wenigstens ein Trost gewesen! Vielleicht war es aber trotzdem besser, daß ein erbarmungsloser Befehl sie dieses letzten Lebewohles beraubte und ihnen dadurch eine herzzerreißende Scene ersparte.

Die Thüre öffnete sich nicht. Zweifellos wußten weder Frau Bathory und ihr Sohn, noch der Intendant Landeck, dem des Grafen Sandorf kleines Töchterchen anvertraut war, wohin die Gefangenen nach ihrer Verhaftung gebracht worden waren; eben so wenig konnte es Borik wissen, der noch immer im Triester Gefängnisse saß. Es war auch kaum anzunehmen, daß sie Alle bereits wußten, welches Los die Führer der Verschwörung getroffen hatte. Die Verurtheilten sollten Jene also vor der Vollziehung des Urtheilsspruches nicht mehr zu sehen bekommen.

In dieser Weise vergingen die ersten Stunden des Tages. Mehrfach plauderte Graf Sandorf mit den Freunden, eben so oft aber auch saß Jeder für sich in tiefes Nachdenken versunken da. In solchen Augenblicken drückt sich im Gedächtnisse die ganze Vergangenheit mit einer fast übernatürlichen Deutlichkeit ab.

Man scheint sich nicht in das Gewesene zu versenken, die Erinnerung nimmt die Gestalt der Gegenwart an. Ist das bereits eine Ahnung der Ewigkeit, die sich uns erschließen will, dieses unfaßlichen und unermeßlichen Zustandes aller Dinge, der sich die Unendlichkeit nennt?

Während Stephan Bathory und Ladislaus Zathmar sich rückhaltslos ihren Erinnerungen hingaben, wurde Mathias Sandorf unablässig von einem ihn ganz beherrschenden Gedanken bewegt. Er zweifelte nicht mehr an das Vorhandensein eines Verrathes an ihrer Sache. Für einen Mann seines Charakters aber war ein Sterben, ohne an dem Verräther Vergeltung geübt zu haben, wer immer es auch gewesen war und trotzdem er ihn nicht kannte, ein zweifacher Tod. Wer konnte es gewesen sein, der das Billet, dem die Polizei die Entdeckung der Verschwörer und deren Verhaftung verdankte, aufgefangen, gelesen, ausgeliefert, vielleicht auch verkauft hatte?… Gegenüber diesem unlöslich scheinenden Probleme wurde das überangestrengte Gehirn des Grafen fast eine Beute des Fiebers.

Er ging, während die Freunde schrieben oder stumm und unbeweglich dasaßen, unruhig, aufgeregt an den Mauern der Zelle entlang, wie ein der Freiheit beraubtes edles Thier.

Eine merkwürdige Erscheinung, die aber vollständig durch die Gesetze der Akustik zu erklären war, sollte ihm endlich das langgesuchte Geheimniß aufdecken, auf dessen Offenbarung er kaum noch zu hoffen gewagt hatte.

Schon einige Male hatte Graf Sandorf nahe dem Winkel auf seiner Wanderung Halt gemacht, welchen die innere Scheidewand mit der äußeren Mauer des Corridors bildete, auf den sich die verschiedenen in diesem Stockwerk gelegenen Zellen des Thurmes öffneten. In dieser Ecke, dicht neben der Thür glaubte er ein, noch wenig faßbares Gemurmel entfernter Stimmen zu vernehmen. Zuerst schenkte er der Beobachtung wenig Aufmerksamkeit, aber plötzlich ließ ihn das Aussprechen eines Namens, des seinigen, schärfer hinhorchen.

Hier spielte sich anscheinend ein akustisches Phänomen ab, ähnlich demjenigen, welches man im Inneren der Gallerien von Kirchen oder unter Wölbungen ellipsoidaler Form beobachten kann. Der Schall der Stimme ist, nachdem er den Contouren der Mauern gefolgt, von der einen Seite der Ellipse auf einen anderen Raum übergegangen, ohne von irgend einem dazwischen liegenden Punkte aufgehalten worden zu sein. Man findet diese Erscheinung in der Krypta des Pantheons in Paris, im Inneren der Kuppel von Sanct Peter in Rom; ebenfalls in der »whispering gallery«, der »tönenden Gallerie« von Sanct Paul in London. Unter den gegebenen Bedingungen wird selbst das kleinste und mit leisester Stimme gesprochene Wort deutlich im gegenüberliegenden Raume hörbar.

Es war zweifellos, daß sich zwei oder mehrere Personen, sei es auf dem Flur selbst, sei es in einer am äußersten Ende seines Durchmessers gelegenen Zelle unterhielten und daß der Brennpunkt sich nahe der Thür der von Mathias Sandorf bewohnten Zelle befand.

Ein Zeichen von ihm brachte seine Freunde in seine Nähe. Sie horchten mit aufmerksam gespannten Sinnen.

Es schlugen deutlich Bruchstücke von Redewendungen an ihr Ohr, zusammenhanglose Sätze, je nachdem sich die Sprecher, selbst unmerklich, von dem Punkte entfernten, dessen Lage die Erzeugung des Phänomens ermöglichte.

Sie hörten in Absätzen folgende Unterhaltung:

»Morgen nach der Execution werden Sie in Freiheit gesetzt…«

»Und dann werden die Güter des Grafen Sandorf zu gleichen Theilen…«

»Unsere drei Köpfe gehören Ihnen,« sagte Graf Sandorf. (S. 82.)

»Ohne meine Hilfe hätten Sie das Billet vielleicht nicht entziffern können…«

»Und wenn ich es nicht vom Halse der Taube genommen hätte, würden Sie es nie in die Hände bekommen haben…«

»Jedenfalls kann uns Niemand verdächtigen, daß es uns die Polizei zu danken hat…«

»Und wenn selbst die Verurtheilten jetzt einen Verdacht hegen…«

»Weder Verwandte noch Freunde, Niemand wird bis zu ihnen dringen…«

»Auf morgen, Sarcany…

– Auf morgen, Silas Toronthal…«

Die Stimmen schienen sich zu entfernen und bald hörte man eine Thür sich schließen.

»Sarcany und Silas Toronthal, sie, also sie sind es!« rief Graf Sandorf.

Er war bleich geworden und blickte seine Freunde an. Unter einem krampfartigen Zusammenziehen hatte einen Augenblick hindurch sein Herz zu schlagen aufgehört. Seine Pupillen hatten sich erschreckend erweitert, sein Hals sich geröthet, sein Kopf schien in die Schultern gesunken zu sein, Alles zeigte den furchtbaren, bis an die äußersten Grenzen der Möglichkeit getriebenen Zorn an, der ihn durchbebte.