Das letzte Untertauchen hatte die Lebensgeister Stephan Bathory’s wieder entfacht. Seine Hand hatte diejenige Sandorf’s gesucht. Dieser beugte sich über ihn und flüsterte ihm zu:..
»Gerettet!«.
Hatte er das Recht, dieses Wort schon jetzt auszusprechen? Gerettet sollten sie sein, und er wußte nicht einmal, weder, wohin sie dieser Fluß führte, welches Land sie durchschwammen, noch, wann sie den Baumstamm würden verlassen können? Seine Willensstärke war aber wieder eine so große geworden, daß er sich auf den Baum schwang und dreimal mit schallender Stimme rief:
»Gerettet! Gerettet! Gerettet!«
Wer hätte diesen Ausruf auch hören sollen? Auf diesen steilen Klippen, denen das treibende Erdreich fehlt, deren Bestandtheile Schichten von Schiefer und Feuerstein bilden, wo noch nicht einmal so viel vegetabilische Erde sich vorfindet, daß Gesträuche vorwärts kommen können, hielt sich gewiß kein menschliches Wesen auf. Die Landschaft, die sich hinter den hohen Uferfelsen verbirgt, kann ebenfalls keine Anziehungskraft auf Menschen ausüben. Es ist ein trauriges Stück Erde, welches die Foïba durchfließt, die von ihren granitenen Mauern eingeschlossen wird wie ein Ableitungscanal. Kein Bach speist sie durch seinen Zufluß. Kein Vogel streift über ihre Oberfläche, selbst der Fisch wagt sich nicht in ihre zu unruhigen Gewässer. Hier und dort stiegen unförmige Felsblöcke aus ihr empor, deren vollständig ausgetrockneter Kamm bewies, daß die Heftigkeit dieses Wasserlaufes nur durch ein augenblickliches Anwachsen in Folge der letzten Regengüsse veranlaßt worden war. Zu gewöhnlichen Zeiten war das Bett der Foïba nur dasjenige eines Bergbaches.
Es stand nicht zu befürchten, daß der Baumstamm gegen eine dieser Klippen geworfen wurde. Er vermied sie von selbst und folgte genau der Strömung, die um sie herumführte. Aus demselben Grunde wäre es aber auch unmöglich gewesen, ihn aus der Strömung zu bringen oder seine Schnelligkeit zu vermindern, um irgend einen Punkt des Ufers erreichen zu können, für den Fall eine Landung gerathen erscheinen sollte.
Unter diesen Verhältnissen verfloß noch eine Stunde, ohne daß man genöthigt gewesen wäre, für eine neuerdings heraufdräuende Gefahr Vorkehrungen zu treffen. Die letzten Blitze zuckten am fernen Horizonte auf; die Gewittererscheinung machte sich nur noch durch ein dumpfes Grollen bemerkbar, das von den hohen Wolkenbergen widerhallte, deren langgezogene Schichten den Horizont umsäumten. Der Tag dämmerte schon deutlicher herauf und erhellte den von den Stürmen der Nacht gereinigten Himmelsraum. Es war um die vierte Morgenstunde.
Stephan Bathory ruhte halb aufgerichtet in den Armen des Grafen Sandorf, der für sie Beide wachte.
Ein ferner Knall ließ sich jetzt in der Richtung von Südwest vernehmen.
»Was ist das? fragte sich der Graf. Ein Kanonenschuß vielleicht, der die Eröffnung eines Hafens ankündigt? In diesem Falle befinden wir uns nahe bei der Küste. Welcher Hafen könnte das sein? Triest? Nein, denn hier, wo die Sonne aufgehen wird, ist Osten. Pola könnte es sein, im äußersten Süden Istriens. Aber dann…«
Ein zweiter Knall verhallte und gleich darauf hörte man einen dritten.
»Drei Kanonenschüsse? überlegte Mathias Sandorf. Das scheint also eher das Zeichen der Sperre zu sein, das den die hohe See aufsuchenden Schiffen gegeben wird. Sollte es mit unserer Flucht in irgend einer Verbindung stehen?«
Er konnte solches befürchten Gewiß hatten die Behörden keine Vorsicht außer Acht gelassen, um der Flüchtigen wieder habhaft zu werden, von denen vorausgesetzt werden mußte, daß sie sich zunächst der Küste zuwenden würden.
»Möge Gott uns nun zu Hilfe kommen, murmelte Graf Sandorf. Er allein kann uns helfen!«
Die steilen Gestade, welche die Foïba einfaßten, senkten sich jetzt und trennten sich von einander. Man hatte aber noch immer keinen Ueberblick über das umliegende Land. Schroffe Gipfel begrenzten den Horizont und ließen den Blick nur einige hundert Schritte weit schweifen. Eine Orientirung war unmöglich.
Das sehr erweiterte Bett des Baches, welches noch immer schweigsam und verlassen schien, erlaubte der Strömung einen gemäßigteren Lauf anzunehmen. Einige Baumstümpfe, die stromaufwärts entwurzelt worden waren, schwammen mit einer mäßigen Schnelligkeit daher. Der Junimorgen ließ sich äußerst frisch an. Die Flüchtigen zitterten vor Frost in ihren durchnäßten Kleidungsstücken. Es war für sie die höchste Zeit, einen Versteck aufzustöbern, damit die Sonne jene in einen trockenen Zustand versetzen konnte.
Um die fünfte Stunde machten die letzten Anhöhen einem langgestreckten, niedrigen Uferrande Platz; man übersah ein flaches, brach liegendes Land. Die Foïba ergoß sich mittelst ihres nun gut eine halbe Meile breiten Bettes in ein mächtiges Becken voll stehenden Wassers, welches mit Recht den Namen einer Lagune verdient hätte, wenn dieser nicht gleichbedeutend mit dem Worte See wäre. Im Hintergrunde, gegen Westen hin, zeigten sich einzelne Barken, von denen einige noch vor Anker lagen, während andere sich jetzt beim Erwachen einer schwachen Brise segelfertig machten; das Auftauchen dieser Boote bewies, daß die Lagune nur ein tief in das Gestade einschneidendes Bassin war. Das Meer war also nicht mehr fern und es schien angezeigt, dasselbe möglichst bald zu erreichen. Weniger klug wäre es gewesen, bei jenen Fischern dort Zuflucht zu suchen. Sich ihnen anvertrauen, das hieß, falls sie Kenntniß von der Flucht hatten, Gefahr laufen, den österreichischen Gensdarmen ausgeliefert zu werden, die ganz gewiß jetzt bereits das Land durchstreiften.
Mathias Sandorf wußte nicht, was nun beginnen, als der Baumstamm am linken Ufer der Lagune an einen nicht über die Oberfläche des Wassers hinausragenden Wurzelstock anstieß und sich sofort festsetzte. Seine Wurzeln klammerten sich so unzertrennlich an das massige Gesträuch an, daß der Baum sich an das Ufer legte, wie ein Boot durch das Anziehen seines Befestigungstaues.
Graf Sandorf erkletterte vorsichtig das flache Ufer. Er wollte sich zuerst davon überzeugen, daß Niemand sie bemerkte.
So weit auch seine Blicke trugen, sah er keinen einzigen Landmann oder Fischer oder sonst Jemand auf diesem Theile des Sumpfes.
Und doch gab es kaum zweihundert Schritte von ihnen entfernt einen flach auf dem Boden liegenden Menschen, der in seiner Lage die Flüchtigen wohl beobachten konnte.
Graf Sandorf, der sich in Sicherheit glaubte, ging wieder an das Ufer zurück; er hob den Gefährten von dem Baumstamme und legte ihn auf den Sand, ohne den Ort zu kennen, auf dem er sich befand, noch die Richtung, die jetzt eingeschlagen werden mußte.
In Wirklichkeit ist die breite Wasserfläche, welche der Foïba als Mündung diente, weder ein See noch eine Lagune, sondern eine buchstäbliche Flußmündung. Man nennt sie den Canal von Leme, welcher mit der Adria durch eine zwischen Orsera und Rovigno auf der westlichen Küste der istrischen Halbinsel angelegte Wasserstraße in Verbindung steht. Aber man wußte nicht, daß es die Gewässer der Foïba waren, die zur Zeit der starken Regengüsse durch die Höhle des Buco getrieben, sich in diesen Canal ergossen.
Einige Schritte weiter entfernt stand auf dem Ufer die Hütte eines Jägers. Dort hinein flüchteten Mathias Sandorf und Stephan Bathory, nachdem sie wieder ein wenig zu Kräften gekommen waren. Sie entledigten sich ihrer Anzüge, welche die Strahlen der glühenden Sonne bald trocknen mußten und warteten das Weitere ab. Die Fischerbarken hatten den Canal von Leme verlassen und so weit der Blick reichte, erschien das Land öde.
Jetzt erhob sich der Mann, der ein Zeuge dieser Scene gewesen war, er näherte sich der Hütte, um einen Ueberblick über die Situation zu gewinnen, dann verschwand er nach Süden zu hinter einer geringen Bodenerhebung.