«Hab ich», antwortete Nigel.
«Kann ich auch», sagte Lavendel.
Fräulein Honig ging zur Tafel und schrieb mit ihrer weißen Kreide den Satz: Ich habe schon zu lernen begonnen, wie man lange Sätze liest. Sie hatte den Satz mit Absicht etwas schwierig formuliert, und sie wußte, daß es nur ziemlich wenige Fünfjährige gab, die damit zu Rande kamen.
«Kannst du mir sagen, was das heißt, Nigel?» fragte sie.
«Das ist mir zu schwer», antwortete Nigel.
«Lavendel?»
«Das erste Wort heißt ‹Ich›», sagte Lavendel.
«Kann einer von euch den ganzen Satz lesen?» fragte Fräulein Honig und wartete auf das Ja, das, wie sie sicher wußte, von Matilda kommen würde.
«Ja», sagte Matilda.
«Dann los», sagte Fräulein Honig.
Matilda las den Satz ohne das geringste Zögern.
«Das ist wirklich recht gut», stellte Fräulein Honig fest, wobei sie so wie noch nie in ihrem Leben untertrieb. «Wieviel kannst du denn lesen, Matilda?»
«Ich glaube, daß ich die meisten Sachen lesen kann, Fräulein Honig», antwortete Matilda, «wenn ich auch leider nicht immer verstehe, was die Wörter bedeuten.»
Fräulein Honig stand auf und schritt entschlossen aus dem Klassenzimmer, kam jedoch nach dreißig Sekunden mit einem dicken Buch zurück. Sie schlug es wahllos auf und legte es auf Matildas Pult. «Dies ist ein Buch mit lustigen Geschichten», erklärte sie, «probier mal, ob du uns dies vorlesen kannst.»
Ohne zu stocken und ohne eine Pause zu machen, begann Matilda flink und flott vorzulesen:
«Ein Epikur aß in Neuhaus
und fand in der Suppe ‘ne Maus.
Rief der Kellner: Gemach!
Kein Geschrei und kein Krach,
sonst wolln nämlich alle so ‘n Graus!»
Einige Kinder verstanden den Witz des Gedichtes und lachten. Fräulein Honig fragte: «Weißt du, was ein Epikur ist, Matilda?»
«Das ist einer, der beim Essen wählerisch ist», antwortete Matilda.
«Das ist richtig», entgegnete Fräulein Honig. «Und weißt du zufällig auch, wie man diese ganz besondere Art von Gedichten nennt?»
«Das nennt man Limerick», erwiderte Matilda, «und dies ist ein besonders hübscher. Er ist so komisch.»
«Er ist auch ziemlich berühmt», sagte Fräulein Honig, nahm das Buch und kehrte zu ihrem Tisch vor der Klasse zurück. «Einen witzigen Limerick zu verfassen ist sehr schwer», setzte sie hinzu, «sie sehen so leicht aus, sind es aber ganz und gar nicht.»
«Ich weiß», sagte Matilda, «ich hab’s schon ein paarmal versucht, aber meine werden nie sehr gut.»
«Ach wirklich?» fragte Fräulein Honig, deren Verblüffung immer größer wurde. «Also, Matilda, ich würde sehr gerne einen von diesen Limericks hören, die du, wie du sagst, geschrieben hast. Ob du dich vielleicht für uns noch an einen erinnern kannst?»
«Also», antwortete Matilda zögernd, «ich hab eben grad versucht, einen auf Sie zu dichten, Fräulein Honig, während Sie hier gesessen haben.»
«Auf mich!» rief Fräulein Honig. «Na, den wollen wir doch ganz bestimmt hören, nicht wahr?»
«Ich weiß aber nicht, ob ich ihn sagen mag, Fräulein Honig.»
«Ach bitte, tu’s doch», bat Fräulein Honig, «ich versprech dir auch, daß ich nichts übelnehmen werde.»
«Vielleicht tun Sie das doch, Fräulein Honig, denn ich habe Ihren Vornamen benutzt, damit sich die Zeilen reimen, und deshalb möchte ich es doch lieber nicht aufsagen.»
«Woher kennst du denn meinen Vornamen?» fragte Fräulein Honig.
«Ich hab gehört, wie Sie eine andere Lehrerin gerufen hat, kurz bevor wir hier reinkamen», sagte Matilda, «sie hat Sie Flo genannt.»
«Ich bestehe aber darauf, diesen Limerick zu hören», sagte Fräulein Honig, wobei sie übers ganze Gesicht lächelte, was nur sehr selten geschah. «Stell dich hin und sag ihn auf.»
Widerwillig erhob sich Matilda und sagte sehr langsam und zappelig ihren Limerick auf:
«Es fragen sich alle bei Flo
und raten und rätseln nur so:
Gewiß gibt es nicht überall ein Gesicht,
das so hübsch ist wie ihrs? Nirgendwo.»
Fräulein Honigs blasses und freundliches Gesicht wurde puterrot, und sie lächelte abermals. Diesmal aber viel heiterer, so wie man lächelt, wenn man sich wirklich über etwas freut.
«Danke schön, Matilda», sagte sie und lächelte immer noch. «Obwohl es nicht stimmt, ist es ein sehr guter Limerick. Ach je, je, den muß ich wirklich auswendig lernen.»
Aus der dritten Bankreihe sagte Lavendeclass="underline" «Das ist gut. Das gefällt mir.»
«Und stimmen tut es auch», sagte ein kleiner Junge namens Rupert.
«Und ob es stimmt», sagte Nigel.
Die ganze Klasse schwärmte schon für Fräulein Honig, obgleich sie kaum ein Kind außer Matilda richtig wahrgenommen hatte.
«Wer hat dir das Lesen beigebracht, Matilda?» fragte Fräulein Honig.
«Ich hab’s mir irgendwie selbst beigebracht, Fräulein Honig.»
«Und hast du schon irgendwelche Bücher gelesen, ich meine: Kinderbücher?»
«Ich habe alle gelesen, die es in der Stadtbücherei in der Hauptstraße gibt, Fräulein Honig.»
«Und haben sie dir gefallen?»
«Ein paar fand ich wirklich ganz gut», antwortete Matilda, «aber die meisten waren ziemlich langweilig.»
«Nenn mir eins, das dir gefallen hat.»
‹«Der König von Narnia›», sagte Matilda. «Ich finde, daß Herr C. S. Lewis ein sehr guter Schriftsteller ist. Er hat nur einen Fehler. In seinen Büchern gibt es keine lustigen Stellen.»
«Da hast du recht», entgegnete Fräulein Honig.
«Und bei Herrn Tolkien gibt es auch nicht viele komische Stellen», sagte Matilda.
«Findest du denn, daß alle Kinderbücher etwas Lustiges haben sollten?» fragte Fräulein Honig.
«Ja», antwortete Matilda, «Kinder sind nicht so ernsthaft wie Erwachsene, und sie lachen gerne.»
Fräulein Honig war von der Weisheit dieses kleinen Mädchens vollkommen verblüfft. Sie sagte: «Und was machst du jetzt, nachdem du alle Kinderbücher ausgelesen hast?»
«Ich lese andere Bücher», entgegnete Matilda, «ich leih sie mir aus der Stadtbücherei. Frau Phelps ist sehr nett zu mir. Sie hilft mir bei der Auswahl.»
Fräulein Honig beugte sich weit über ihren Arbeitstisch und betrachtete das Kind voller Staunen. Sie hatte den Rest der Klasse vollkommen vergessen. «Was für andere Bücher?» murmelte sie.
«Charles Dickens mag ich besonders gern», sagte Matilda, «er macht mich immer wieder lachen. Besonders Mr. Pickwick.»
In diesem Augenblick schepperte die Glocke und verkündete das Ende der Schulstunde.
Fräulein Honig verließ in der Pause den Klassenraum und ging geradewegs zum Arbeitszimmer der Schulleiterin. Sie war vollkommen außer sich. Sie war auf ein kleines Mädchen gestoßen, das hochbegabt war oder das ihr wenigstens so vorkam. Sie hatte noch nicht feststellen können, wie der genaue Grad dieser Begabung war, hatte aber genug mitgekriegt, um zu dem Schluß zu kommen, daß in dieser Sache so bald wie möglich etwas geschehen mußte. Es wäre geradezu lächerlich, wenn man solch ein Kind bei den Abc-Schützen ließe.
Normalerweise verspürte Fräulein Honig eine heilige Angst vor der Schulleiterin und hielt sich möglichst fern von ihr, aber in diesem Augenblick hatte sie das Gefühl, daß sie es mit jedem aufnehmen könnte. Sie klopfte an die Tür des gefürchteten privaten Arbeitszimmers.