«Herein!» dröhnte die tiefe und gefährliche Stimme von Fräulein Knüppelkuh. Fräulein Honig trat ein.
Schulleiter bekommen ihre Stellung meistens deshalb, weil sie über eine Anzahl von hervorragenden Eigenschaften verfügen. Sie verstehen Kinder, und nichts liegt ihnen so am Herzen wie die Interessen dieser Kinder. Sie sind liebenswürdig. Sie sind gerecht, und sie beschäftigen sich eingehend mit Erziehungsfragen. Fräulein Knüppelkuh besaß jedoch keine dieser Eigenschaften, und wie sie zu ihrer augenblicklichen Stelle gekommen war, blieb ein ewiges Geheimnis.
Sie war zudem ein gewaltiges Weib. Früher war sie eine bekannte Athletin gewesen, und ihre Muskeln fielen einem heute noch auf. Man konnte sie auf ihrem Stiernacken erkennen, den breiten Schultern, den dicken Armen, den sehnigen Handgelenken und an den mächtigen Beinen. Beim Anblick von Fräulein Knüppelkuh bekam man sofort das Gefühl, jemanden vor sich zu haben, der Eisenstangen verbiegen und Telefonbücher quer durchreißen konnte. Auf ihrem Gesicht zeigte sich leider nicht die geringste Spur von Schönheit, noch war es ein erfreulicher Anblick. Sie besaß ein eigensinniges Kinn, einen grausamen Mund und kleine hochmütige Augen. Und was ihre Kleider anbelangt... Sie waren zumindest außergewöhnlich sonderbar. Sie steckte immer in einem braunen Baumwollkittel, der um die Hüften von einem breiten Ledergürtel zusammengehalten wurde. Dieser war vorn mit einer riesigen Silberschnalle verschlossen. Die fetten Hüften, die unter dem strammen Gürtel hervorquollen, steckten in merkwürdigen Reithosen aus grobem Köperstoff in einem flaschengrünen Farbton. Diese Hosen reichten bis knapp über die Knie, und dazu trug sie mit Vorliebe grüne Strümpfe, die oben einmal umgeschlagen wurden und ihre Wadenmuskeln in aller Deutlichkeit zeigten. Ihre Füße steckten in flachen braunen Haferlschuhen. Sie sah also, kurz gesagt, eher wie ein ziemlich verrückter und blutdürstiger Jäger hinter der Meute scharfer Jagdhunde aus als wie die Leiterin einer netten Grundschule.
Als Fräulein Honig das Arbeitszimmer betrat, stand Fräulein Knüppelkuh mit ungeduldiger und finsterer Miene neben ihrem gewaltigen Schreibtisch. «Ja, Fräulein Honig», sagte sie, «was wollen Sie? Sie sehen ja heute früh vollkommen aufgelöst aus. Was ist los mit Ihnen? Haben diese kleinen Stinker Sie mit Papierkügelchen beschossen?»
«Nein, Frau Rektorin, keineswegs.»
«Was ist es denn dann? Heraus damit. Ich bin eine beschäftigte Frau.» Während sie sprach, griff sie nach einem Krug, der immer auf ihrem Schreibtisch stand, und goß sich ein Glas Wasser ein.
«Ich habe in meiner Klasse ein kleines Mädchen namens Matilda Wurmwald...» begann Fräulein Honig.
«Das ist die Tochter von dem Mann, dem Wurmwald-Motoren in der Stadt gehört», bellte Fräulein Knüppelkuh. Sie sprach fast niemals mit normaler Stimme. Sie bellte entweder, oder sie brüllte. «Guter Mann, der Wurmwald», fuhr sie fort, «bin erst gestern bei ihm gewesen. Hat mir einen Wagen verkauft. Fast neu. Nur zehntausend Kilometer drauf. Hat einer alten Dame gehört, die den Wagen höchstens einmal im Jahr aus der Garage holte. Da hab ich ein Mordsgeschäft gemacht. Ja, Wurmwald gefällt mir. Eine wahre Säule unserer Gesellschaft. Hat mir gesagt, seine Tochter sei allerdings ein schlimmes Stück. Ich sollte ein wachsames Auge auf sie haben. Er hat gesagt, wenn in der Schule jemals was passierte, so steckte bestimmt seine Tochter dahinter. Ich hab die kleine Ratte noch nicht zu sehen gekriegt, aber ich werd sie schon erkennen, wenn es soweit ist. Ihr Vater sagt, sie sei ein richtiges Früchtchen.»
«O nein, Frau Rektorin, das kann nicht stimmen!» rief Fräulein Honig.
«O ja, Fräulein Honig, und ob das stimmt! Wenn ich nämlich richtig darüber nachdenke, so geh ich jede Wette ein, daß sie es war, die mir heute früh eine Stinkbombe unter den Tisch gelegt hat. Das Zimmer hat wie eine Kloake gerochen! Natürlich ist sie das gewesen! Das werd ich ihr heimzahlen, passen Sie nur auf! Wie sieht sie aus? Wahrscheinlich wie ein widerlicher kleiner Wurm. Ich habe nämlich in meiner langen Karriere als Lehrerin herausgefunden, Fräulein Honig, daß ein schlimmes Mädchen weitaus gefährlicher ist als ein schlimmer Junge. Und dann kommt noch hinzu, sie sind viel schwerer fertigzumachen. Ein schlimmes Mädchen zu erledigen, das ist so, als ob man versuchte, eine Schmeißfliege zu zerquetschen. Man haut drauf, und weg ist das verdammte Ding. Abscheuliche schmutzige Dinger diese Mädchen. Ich bin nur froh, daß ich nie eins war.»
«Oh, aber einmal müssen Sie doch auch ein kleines Mädchen gewesen sein, Frau Rektorin. Ganz bestimmt.»
«Wenigstens nicht lange», bellte Fräulein Knüppelkuh und grinste, «bin im Handumdrehen eine Frau geworden.»
Sie ist völlig verrückt, sagte sich Fräulein Honig, knatschverrückt. Sie blieb entschlossen vor der Schulleiterin stehen. Ein einziges Mal wollte sie sich nicht abweisen und unterdrücken lassen. «Ich muß Ihnen erklären, Frau Rektorin», sagte sie, «daß Sie ganz und gar im Irrtum sind, wenn Sie meinen, Matilda hätte eine Stinkbombe unter Ihren Schreibtisch gelegt.»
«Ich irre mich nie, Fräulein Honig.»
«Aber Frau Rektorin, es ist der erste Schultag des Kindes, und es ist direkt in den Klassenraum...»
«Um Himmels willen, keine Widerworte, Weib! Diese kleine miese Matilde, oder wie sie heißt, hat nur mein Arbeitszimmer stinkbombardiert! Daran gibt’s nichts zu drehen und zu deuteln! Besten Dank, daß Sie mich darauf hingewiesen haben.»
«Aber ich habe Sie nicht darauf hingewiesen, Frau Rektorin.»
«Aber natürlich haben Sie das getan! Also, was haben Sie noch auf dem Herzen, Fräulein Honig? Warum verplempern Sie meine Zeit?»
«Ich wollte mich mit Ihnen über Matilda unterhalten, Frau Rektorin. Ich muß Ihnen etwas ganz Außergewöhnliches über dieses Kind berichten. Darf ich Ihnen bitte erzählen, was gerade eben in der Klasse geschehen ist?»
«Hat wahrscheinlich Ihren Rock in Brand gesteckt und Ihre Unterhosen angesengelt!» schnaubte Fräulein Knüppelkuh.
«Nein, aber nein!» rief Fräulein Honig aus. «Matilda ist ein Genie.»
Bei der Erwähnung dieses Wortes lief Fräulein Knüppelkuhs Gesicht purpurrot an, und ihr ganzer Leib schien sich aufzublähen und zu schwellen wie bei einem Ochsenfrosch. «Ein Genie!» brüllte sie. «Was für einen Quatsch versuchen Sie mir da einzureden, meine Dame? Sie müssen den Verstand verloren haben! Ich habe das Wort ihres Vaters, daß dieses Kind ein Gangster ist!»
«Ihr Vater irrt sich, Frau Rektorin.»
«Seien Sie doch nicht albern, Fräulein Honig! Sie haben dieses kleine Biest eine halbe Stunde vor der Nase gehabt, ihr Vater kennt sie ihr ganzes Leben!»
Fräulein Honig war jedoch so fest entschlossen, diesmal das zu sagen, was sie auf dem Herzen hatte, daß sie einfach anfing, von Matildas erstaunlichen Rechenkunststücken zu erzählen.
«Dann hat sie also ein paar Einmaleinse auswendig gepaukt. Na und?» bellte Fräulein Knüppelkuh. «Das, meine Liebe, macht doch noch kein Genie aus ihr! Höchstens einen Papagei!»
«Aber Frau Rektorin, sie kann lesen.»