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Fräulein Honig begann die Geduld zu verlieren. «Herr Wurmwald», sagte sie, «wenn Sie finden, daß irgendein schwachsinniges Fernsehprogramm wichtiger ist als die Zukunft Ihrer Tochter, dann hätten Sie nicht Vater werden sollen! Warum stellen Sie das verflixte Ding nicht ab und hören mir zu?»

Das brachte Herrn Wurmwald vollkommen durcheinander. Er war nicht daran gewöhnt, daß man so mit ihm sprach. Er beäugte mißtrauisch die schlanke, zerbrechliche Frau, die so entschlossen vor seiner Schwelle stand. «Na, also gut», fuhr er sie an, «rein mit Ihnen, damit wir’s schnell hinter uns bringen.»

Fräulein Honig trat energisch ein.

«Frau Wurmwald wird Ihnen dafür nicht sehr dankbar sein», sagte er, während er sie ins Wohnzimmer führte, wo eine füllige wasserstoffblonde Frau hingerissen auf den Bildschirm starrte.

«Wer ist das?» fragte die Frau, ohne sich umzudrehen.

«‘ne Lehrerin», antwortete Herr Wurmwald. «Sie sagt, sie muß mit uns über Matilda reden.» Er ging zum Fernsehgerät und stellte den Ton ab, ließ aber das Bild weiterlaufen.

«Laß das doch, Harry!» rief Frau Wurmwald aus. «Hans-Joachim ist gerade dabei, Angelika einen Heiratsantrag zu machen!»

«Kannst ja zugucken, während wir reden», sagte Herr Wurmwald. «Dies ist Matildas Lehrerin. Sie sagt, sie hätte irgendwelche Neuigkeiten für uns.»

«Mein Name ist Florentine Honig», sagte Fräulein Honig. «Guten Abend, Frau Wurmwald.»

Frau Wurmwald glotzte sie an und fragte: «Was ist denn los?»

Niemand lud Fräulein Honig zum Sitzen ein, deshalb suchte sie sich einen Stuhl aus und nahm unaufgefordert Platz. «Heute», sagte sie, «war der erste Schultag Ihrer Tochter.»

«Das wissen wir», sagte Frau Wurmwald ziemlich gereizt, weil sie ihre Sendung verpaßte. «Ist das alles, was Sie uns zu sagen haben?»

Fräulein Honig starrte in die feuchten grauen Augen der anderen Frau, und sie ließ das Schweigen sich so lange ausdehnen, bis es Frau Wurmwald unbehaglich wurde. «Wünschen Sie, daß ich den Grund meines Kommens erkläre?» fragte Fräulein Honig.

«Schießen Sie los», sagte Frau Wurmwald.

«Sie wissen sicher», begann Fräulein Honig, «daß man von Kindern, die gerade eingeschult werden, nicht erwartet, daß sie schon lesen oder buchstabieren oder mit Zahlen umgehen. Fünfjährige können das nicht. Matilda aber kann das alles. Und wenn ich ihr glauben darf...»

«Würd ich nie», sagte Frau Wurmwald. Sie war immer noch wütend, weil sie den Ton im Fernsehen nicht mitkriegte.

«Hat sie etwa gelogen», fragte Fräulein Honig, «als sie mir sagte, daß ihr keiner das Multiplizieren oder das Lesen beigebracht hat? Hat sie einer von Ihnen unterrichtet?»

«Was unterrichtet?» fragte Herr Wurmwald.

«Lesen. Bücher lesen», sagte Fräulein Honig. «Vielleicht haben Sie sie ja unterrichtet. Vielleicht hat sie geschwindelt. Vielleicht ist Ihr ganzes Haus voller Bücher und Bücherregale. Das kann ich nicht wissen. Vielleicht sind Sie beide ja große Leser.»

«Natürlich lesen wir», antwortete Herr Wurmwald. «Reden Sie doch keinen Kokolores. Ich lese jede Woche das ‹Auto› und ‹Der Motor› von vorne bis hinten durch.»

«Das Kind hat bereits eine erstaunliche Anzahl an Büchern gelesen», fuhr Fräulein Honig fort. «Ich wollte nur in Erfahrung bringen, ob sie aus einer Familie kommt, in der gute Literatur geschätzt wird.»

«Also vom Bücherlesen halten wir nicht viel», sagte Herr Wurmwald. «Man kann’s zu nichts bringen, wenn man nur auf seinen vier Buchstaben hockt und Geschichtenbücher liest. So was haben wir nicht im Hause.»

«Aha», sagte Fräulein Honig, «nun, ich wollte Ihnen nur berichten, daß Matilda hochbegabt ist. Aber das wissen Sie vermutlich schon längst.»

«Daß sie lesen kann, das weiß ich schon», sagte die Mutter, «sie steckt Tag und Nacht oben in ihrem Zimmer und vergräbt sich in irgendwelchen blöden Büchern.»

«Aber ist es Ihnen nicht aufgefallen», fragte Fräulein Honig, «daß ein kleines fünfjähriges Kind dicke Bücher für Erwachsene von Dickens und Hemingway liest? Reißt Sie das nicht vor Aufregung aus dem Sessel?»

«Eigentlich nicht», antwortete die Mutter. «Von Blaustrümpfen halt ich nicht viel. Ein Mädchen sollte über sein Aussehen nachdenken und wie es attraktiv wird, damit es später einen guten Mann erwischt. Das Aussehen ist viel wichtiger als Bücher, Fräulein Marmelade...»

«Mein Name ist Honig», sagte Fräulein Honig.

«Also schauen Sie doch mich an», fuhr Frau Wurmwald fort, «und dann schauen Sie sich an. Sie haben sich für die Bücher entschieden. Ich fürs gute Aussehen.»

Fräulein Honig betrachtete sich die dicke dumme Person mit dem Puddinggesicht, die ihr gegenübersaß. «Was haben Sie gesagt?» fragte sie.

«Ich sagte, Sie hätten Bücher gewählt und ich das Aussehen», wiederholte Frau Wurmwald. «Und wer hat das Bessere erwischt? Ich natürlich. Ich sitze gemütlich in einem hübschen Haus mit einem erfolgreichen Geschäftsmann, und Sie müssen sich abschuften, um einer Horde von gräßlichen kleinen Rangen das Abc einzubleuen.»

«Ganz recht, Zuckerpfläumchen», sagte Herr Wurmwald und bedachte seine Frau mit einem so affektierten und dreckigen Grinsen, daß es ein Pferd zum Kotzen hätte bringen können.

Fräulein Honig kam zu dem Schluß, daß sie ihre Beherrschung nicht verlieren durfte, wenn sie mit diesen Leuten zu irgendeinem Ergebnis gelangen wollte. «Ich habe Ihnen noch nicht alles berichtet», sagte sie. «So weit ich es in diesem frühen Stadium übersehen kann, ist Matilda auch eine Art mathematisches Genie. Sie kann in Blitzgeschwindigkeit hohe Zahlen miteinander multiplizieren.»

«Was hat das für einen Sinn, wenn’s überall Taschenrechner zu kaufen gibt?» fragte Herr Wurmwald.

«Ein Mädchen kriegt keinen Mann, wenn es auf gescheit macht», stellte Frau Wurmwald fest. «Schauen Sie sich zum Beispiel diese Filmstars an», setzte sie hinzu, indem sie auf den schweigenden Bildschirm deutete, wo ein weibliches Wesen mit schwellendem Busen im Mondschein von einem markigen Mimen umarmt wurde. «Bilden Sie sich etwa ein, den hätt sie sich geschnappt, wenn sie ihm was vormultipliziert hätte? Also wirklich nicht. Und jetzt wird sie heiraten, das werden Sie schon sehen, und dann lebt sie in einem Herrenhaus mit einem Butler und ganzen Scharen von Dienstmädchen.»

Fräulein Honig konnte kaum glauben, was sie da hörte. Sie hatte zwar schon davon gelesen, daß es solche Eltern im ganzen Lande gab und daß sich ihre Kinder zu Verbrechern und Taugenichtsen entwickelten, aber es wirkte wie ein Schock, so ein Elternpaar in Fleisch und Blut zu treffen.

«Das Problem für Matilda», setzte sie noch einmal an, «liegt darin, daß sie allen anderen in ihrer Umgebung so weit voraus ist. Daher würde es sich vielleicht lohnen, über so etwas wie private Förderstunden nachzudenken. Wenn sie richtig angeleitet würde, so glaube ich in allem Ernst, daß sie innerhalb von zwei oder drei Jahren zur Universitätsreife gebracht werden könnte.»

«Universität?» schrie Herr Wurmwald und fuhr in seinem Sessel hoch. «Wer will denn um des Himmels willen auf die Universität? Alles was sie da lernen ist Faulenzen und Randalieren.»

«Das stimmt nicht», widersprach Fräulein Honig. «Wenn Sie in diesem Augenblick einen Herzinfarkt hätten und nach einem Arzt riefen, so hätte dieser Arzt eine Universität absolviert. Wenn Sie Ärger kriegten, weil Sie jemandem einen miserablen Gebrauchtwagen verkauft haben, so müßten Sie sich einen Rechtsanwalt nehmen, und auch der hätte an einer Universität studiert. Sie dürfen gebildete Menschen nicht verachten, Herr Wurmwald. Aber ich sehe schon, daß wir uns nicht einigen werden. Es tut mir leid, daß ich so bei Ihnen hereingeplatzt bin.» Fräulein Honig erhob sich und schritt aus dem Zimmer.