Herr Wurmwald folgte ihr bis zur Haustür und sagte: «Nett von Ihnen, daß Sie gekommen sind, Fräulein Hering, oder war es Fräulein Hühnchen?»
«Keins von beiden», entgegnete Fräulein Honig, «aber das macht nichts.» Und damit entschwand sie.
Das Nette an Matilda war: wenn man sie zufällig traf und sich mit ihr unterhielt, hätte man sie für ein vollkommen normales fünfeinhalbjähriges Kind gehalten. Fast nichts deutete auf ihre Begabung hin, und sie gab auch niemals an. «Das ist ein sehr vernünftiges und ruhiges kleines Mädchen», hättest du dir gesagt. Und wenn du sie nicht aus irgendeinem Grunde in eine Diskussion über Literatur oder Mathematik verwickelt hättest, so wäre dir das Ausmaß ihres Verstandes gar nicht klargeworden.
Es fiel Matilda deshalb leicht, sich mit anderen Kindern anzufreunden. Alle in ihrer Klasse mochten sie gern. Sie wußten natürlich, daß sie «klug» war, weil sie das in dem Gespräch mit Fräulein Honig am ersten Schultag gehört hatten. Und sie wußten auch, daß sie während des Unterrichts schweigend mit einem Buch dasitzen durfte und nicht auf die Lehrerin zu achten brauchte. Aber Kinder in diesem Alter gehen den Dingen nicht genau auf den Grund. Sie sind so sehr mit ihren eigenen kleinen Problemen befaßt, daß sie sich nicht sonderlich darum kümmern, was die anderen treiben und warum.
Unter Matildas neuen Freunden war ein Mädchen namens Lavendel. Schon am allerersten Schultag hatten die beiden begonnen, in der kleinen und in der großen Pause miteinander auf den Schulhof zu gehen. Lavendel war für ihr Alter außergewöhnlich klein, eine zarte dünne Elfe mit dunkelbraunen Augen und dunklen Haaren, die ihr in Simpelfransen über die Stirn fielen. Matilda mochte sie gern, weil sie Schwung und Mut besaß und Abenteuer liebte. Und genau aus denselben Gründen mochte Lavendel Matilda.
Schon in der ersten Woche ihrer Schulzeit begannen sich bei den Abc-Schützen gräßliche Geschichten über Fräulein Knüppelkuh, die Direktorin, zu verbreiten. Als Matilda und Lavendel am dritten Tag in der kleinen Pause in einem Winkel des Schulhofs standen, näherte sich ihnen eine schlampige Zehnjährige, die Hortensia hieß und einen Pickel auf der Nase hatte. «Neuer Nachschub, was?» bemerkte Hortensia und schaute von ihrer großen Höhe zu ihnen hinab. Sie schüttelte eine extragroße Tüte Kartoffelchips und stopfte sich das Zeugs mit vollen Händen in den Mund. «Willkommen in der Besserungsanstalt für jugendliche Schwerverbrecher», setzte sie hinzu, und dabei stoben die Krümel wie Schneegestöber aus ihrem Mund.
Die beiden Kleinen wahrten im Angesicht dieser Riesin ein wachsames Schweigen.
«Seid ihr schon an die Knüppelkuh geraten?» fragte Hortensia.
«Wir haben sie beim Morgengebet gesehen», antwortete Lavendel, «aber getroffen haben wir sie noch nicht.»
«Na, da habt ihr ja noch was Schönes vor euch», sagte Hortensia. «Kleine Kinder kann sie nicht ausstehen. Deshalb findet sie die erste Klasse zum Kotzen. Sie findet, Fünfjährige sind Maden oder Raupen, die noch nicht ausgeschlüpft sind.» Rein mit der nächsten Hand Kartoffelchips und, als sie den Mund wieder aufklappte, raus das nächste Krümelgestöber. «Wenn ihr das erste Jahr hier überlebt, dann schafft ihr’s vielleicht grade, euch durch den Rest eurer Zeit hier durchzumogeln. Aber viele überleben erst gar nicht. Sie werden auf Bahren rausgetragen, heulend und schreiend. Hab ich oft gesehen.» Hortensia hielt inne, um zu überprüfen, wie diese Bemerkungen auf die beiden Fliegengewichte wirkten. Sie kamen ihr ziemlich ungerührt vor. Also beschloß die Große, sie mit weiteren Informationen zu füttern.
«Wahrscheinlich wißt ihr ja, daß die Knüppelkuh in ihrer Wohnung einen verschlossenen Schrank hat, den man den Luftabschneider nennt. Habt ihr schon vom Luftabschneider gehört?»
Matilda und Lavendel schüttelten den Kopf und starrten unverwandt zu der Riesin empor. Weil sie so klein waren, neigten sie dazu, allen Geschöpfen zu mißtrauen, die sie überragten, vor allem älteren Schulmädchen.
«Der Luftabschneider», fuhr Hortensia fort, «ist ein sehr hoher, aber ganz schmaler Schrank. Der Boden ist knapp einen halben Meter breit, man kann sich also nicht hinsetzen und hinhocken auch nicht. Man muß stehen. Und drei von den Wänden sind aus Zement mit lauter Glasscherben, die überall rausragen, man kann sich also nicht anlehnen. Wenn man da eingesperrt wird, muß man die ganze Zeit stehen, kerzengerade stehen. Das ist fürchterlich.»
«Kann man sich nicht an die Tür lehnen?» fragte Matilda.
«Sei nicht so blöd», sagte Hortensia. «Die Tür ist mit tausend scharfen Nagelspitzen gespickt. Sie sind von draußen durchgehämmert, wahrscheinlich höchstpersönlich von der Knüppelkuh.»
«Bist du da schon mal dringewesen?» fragte Lavendel.
«In der ersten Klasse sechsmal», antwortete Hortensia, «zweimal einen ganzen Tag und die andern Male jedesmal zwei Stunden. Aber zwei Stunden sind schon schlimm genug. Es ist stockfinster, und man muß kerzengerade stehen und darf sich nicht rühren, und wenn man wackelt, zerfleischt man sich entweder an den Glasscherben in den Wänden oder an den Nägeln in der Tür.»
«Warum bist du denn eingesperrt worden?» fragte Matilda. «Was hast du gemacht?»
«Beim erstenmal», erzählte Hortensia, «hab ich eine halbe Dose Ahornsirup auf den Sitz von dem Stuhl gekippt, auf dem die Knüppelkuh beim Morgengebet immer sitzt. Es war wunderbar. Als sie sich auf dem Stuhl niedergelassen hat, da gab’s so ein Quatschen, wie es ein Rhinozeros macht, wenn es mit seinen Füßen in den Uferschlamm des Flusses Limpopo hineinstampft. Aber ihr seid ja zu klein und zu dumm, als daß ihr schon die ‹Geschichten für den allerliebsten Liebling› von Kipling gelesen hättet. Stimmt’s?»
«Ich hab sie gelesen», antwortete Matilda.
«Du bist eine Hochstaplerin», sagte Hortensia freundlich, «du kannst ja noch nicht einmal lesen. Aber was soll’s. Als sich also die Knüppelkuh auf den Ahornsirup setzte, schmatzte der Quatsch ganz wunderbar, und als sie wieder aufsprang, klebte der Stuhl sozusagen am Hosenboden dieser grauenhaften grünen Säcke fest, die sie immer trägt, und stieg mit ihr ein paar Sekunden in die Höhe, bis der zähe Sirup langsam nachgab. Und dann fuhr sie mit den Händen an ihr Hosenhinterteil, und schon hatte sie sich alle beiden Hände mit dem Kleisterzeugs verschmiert. Ihr hättet mal hören sollen, wie sie geheult hat.»
«Aber woher hat sie denn gewußt, daß du das warst?» fragte Lavendel.
«Ein kleiner Mistkerl namens Ole Sumpfblase hat mich verpfiffen», antwortete Hortensia. «Ich hab ihm die Vorderzähne eingeschlagen.»
«Und die Knüppelkuh hat dich für einen ganzen Tag im Luftabschneider eingesperrt?» fragte Matilda mit großen Augen.
«Den ganzen Tag lang», entgegnete Hortensia. «Ich war fix und fertig, als sie mich rausließ. Ich hab wie ein Idiot geröchelt und gesabbert.»