«Jetzt haltet euch fest», flüsterte Hortensia.
«Was wird denn passieren?» flüsterte Lavendel zurück.
«Diese blöde Amanda», erklärte Hortensia, «hat sich die Haare in den Schulferien noch länger wachsen lassen, und ihre Mutter hat sie ihr zu Zöpfen geflochten. Völlig schwachsinnig, so was zu machen.»
«Warum schwachsinnig?» fragte Matilda.
«Wenn’s eins gibt, was die Knüppelkuh nicht ausstehen kann, so sind das Zöpfe», antwortete Hortensia.
Matilda und Lavendel sahen die Riesin in den grünen Kniehosen auf ein Mädchen von etwa zehn Jahren zuschreiten, dem ein Paar goldblonde Zöpfe auf dem Rücken hingen. Jeder Zopf war mit einer blauen Seidenschleife zugebunden, und das sah alles in allem sehr niedlich aus. Das Mädchen mit den Zöpfen, Amanda Tripp, stand mucksmäuschenstill da und beobachtete die nahende Riesin. Den Ausdruck auf ihrem Gesicht hätte man auch auf dem eines Menschen entdecken können, der sich in einem kleinen Gatter allein mit einem wütenden Stier eingesperrt findet, der gerade zum Angriff ansetzt. Das Mädchen war vor Schreck wie festgenagelt. Es bebte. Die Augen quollen ihm aus dem Kopf, und es wußte, daß ihm endlich der Tag des Jüngsten Gerichtes anbrach.
Fräulein Knüppelkuh hatte unterdessen das Opfer erreicht und blieb darübergebeugt stehen. «Ich will, daß diese zerzausten Zöpfe verschwunden sind, wenn du dich morgen hier in der Schule wieder blicken läßt!» bellte sie. «Schneid sie ab und schmeiß sie in den Mülleimer, hast du mich verstanden?»
Amanda, starr vor Angst und Schrecken, konnte nur noch stottern: «Meine Mammamamami mag sie aber. Sie flicht sie mir jeden Morgen.»
«Bei deiner Mami piept’s!» bellte die Knüppelkuh. Sie deutete mit einem Finger, so dick wie eine Salami, auf den Kopf des Kindes und kreischte: «Du siehst aus wie eine Ratte, der der Schwanz aus dem Kopf kommt!»
«Meine Mammamamami findet, ich sehe hübsch aus, Fräulein Knüknüknüppelkuh», stotterte Amanda und zitterte wie ein Wackelpudding.
«Was deine Mami denkt, kümmert mich einen feuchten Kehricht!» heulte die Knüppelkuh und beugte sich bei diesen Worten vor. Mit ihrer rechten Faust packte sie Amandas Zöpfe und riß das Mädchen einfach vom Boden hoch. Dann fing sie an, sie um den Kopf herumzuwirbeln, herum und herum und immer schneller, und Amanda schrie wie am Spieß, und die Knüppelkuh brüllte: «Ich werd dich Zöpfe flechten lehren, du kleine Ratte!»
«Wie bei der Olympiade», murmelte Hortensia. «Sie nimmt jetzt Geschwindigkeit auf, genauso wie sie es mit dem Hammer gemacht hat. Zehn zu eins, daß sie Amanda wirft.»
Und nun lehnte sich die Knüppelkuh zurück, gegen das Gewicht des wirbelnden Mädchens, drehte sich gekonnt auf den Zehenspitzen um die eigene Achse, wirbelte weiter herum, und bald kreiste Amanda Tripp so schnell durch die Luft, daß sie nur noch ein Farbfleck war, und plötzlich ließ die Knüppelkuh die Zöpfe mit einem wilden Grunzen fahren, und Amanda schoß wie eine Rakete hoch über den Drahtzaun des Schulhofs in den Himmel hinauf.
«Guter Wurf, Meister!» rief jemand draußen vorm Schulhof, und Matilda, die die ganze Wahnsinnsangelegenheit gebannt beobachtet hatte, sah, wie Amanda Tripp in einem langen anmutigen Bogen drüben auf dem Sportplatz niederging. Sie landete auf dem Rasen, prallte dreimal auf und kam schließlich zum Stillstand. Dann richtete sie sich erstaunlicherweise auf. Sie wirkte etwas benommen, was man ihr wirklich nicht vorwerfen konnte, aber nach ungefähr einer Minute war sie wieder auf den Füßen und trottete zum Schulhof zurück. Dort stand die Knüppelkuh und klopfte sich den Staub von den Händen. «Nicht schlecht», bemerkte sie, «wenn man bedenkt, daß ich eigentlich nicht im Training bin. Gar nicht so schlecht.» Damit schlenderte sie davon.
«Sie ist verrückt», sagte Hortensia.
«Aber beschweren sich die Eltern denn nicht?» fragte Matilda.
«Würden deine das tun?» fragte Hortensia dagegen. «Meine würden sich nicht mucksen, das weiß ich ganz genau. Sie behandelt die Mütter und Väter genauso wie die Kinder, und sie haben alle einen Heidenrespekt vor ihr. Ich seh euch sicher wieder, ihr beiden.»
Damit hüpfte sie davon.
«Wie kann sie damit durchkommen?» fragte Lavendel Matilda. «Wenn die Kinder nach Hause gehen, erzählen sie doch sicher ihren Eltern davon. Ich weiß bestimmt, mein Vater würde einen fürchterlichen Wirbel machen, wenn ich ihm erzählte, daß mich die Schulleiterin bei den Haaren gepackt und über den Schulzaun geschleudert hätte.»
«Nee, das wird er nicht machen», antwortete Matilda, «und ich will dir auch sagen warum. Er würde dir einfach nicht glauben.»
«Aber natürlich wird er das.»
«Wird er nicht», sagte Matilda, «und der Grund dafür ist klar. Deine Geschichte würde so verrückt klingen, daß sie keiner glaubt. Und das ist der große Trick der Knüppelkuh.»
«Was für ein Trick?» fragte Lavendel.
Matilda antwortete: «Wenn man mit etwas durchkommen will, darf man keine halben Sachen machen. Du mußt unverschämt sein und immer mit vollem Dampf voraus. Und du mußt darauf achten, daß alles, was du anstellst, so absolut wahnsinnig ist, daß es keiner glaubt. Kein Vater und keine Mutter werden diese Zopfgeschichte schlucken, auch nicht in einer Million Jahren. Meine ganz bestimmt nicht. Sie würden sagen, lüg nicht so.»
«Wenn das so ist», sagte Lavendel, «wird Amandas Mutter ihr auch nicht die Zöpfe abschneiden.»
«Nein, sie bestimmt nicht», antwortete Matilda, «das muß Amanda selber tun. Du wirst schon sehen, was passiert.»
«Glaubst du, daß sie verrückt ist?» fragte Lavendel.
«Wer?»
«Die Knüppelkuh.»
«Nein, daß sie verrückt ist, glaube ich nicht», entgegnete Matilda, «aber sie ist sehr gefährlich. Wenn man in diese Schule geht, dann ist es genauso, als ob man zusammen mit einer Kobra in einem Käfig steckt. Man muß ziemlich flink sein.»
Am folgenden Tag erlebten sie wieder, wie gefährlich die Schulleiterin werden konnte. Während der großen Pause wurde angekündigt, daß sich die ganze Schule gleich danach in der Aula versammeln und hinsetzen sollte.
Nachdem sich alle ungefähr zweihundertundfünfzig Jungen und Mädchen in der Aula niedergelassen hatten, kam die Knüppelkuh auf die Bühne marschiert. Keiner der anderen Lehrer begleitete sie. In der rechten Hand trug sie eine Reitpeitsche. Sie baute sich in ihren grünen Hosen mit gespreizten Beinen mitten auf der Bühne auf, den Reitstock in der Hand, und starrte in das Meer der zu ihr emporgewandten Gesichter.
«Was passiert denn jetzt?» flüsterte Lavendel.
«Keine Ahnung», flüsterte Matilda zurück.
Die ganze Schule wartete gespannt auf das, was nun kommen würde.
«Theo Torfkopp!» bellte die Knüppelkuh plötzlich. «Wo steckt Theo Torfkopp?»
Mitten zwischen den Kindern fuhr eine Hand in die Höhe.
«Komm hier rauf!» schrie die Knüppelkuh, «und ein bißchen hopp hopp!»
Ein elfjähriger Junge, der ausgesprochen wohlgenährt war, stand auf und watschelte rasch nach vorn. Er kletterte auf die Bühne.