«Stell dich hierher!» befahl die Knüppelkuh und deutete mit dem Finger auf die Stelle. Der Junge stellte sich neben sie. Er wirkte nervös. Er wußte sehr wohl, daß er nicht hier heraufgerufen worden war, um einen Preis entgegenzunehmen. Er beobachtete die Schulleiterin mit wachsendem Mißtrauen und schuffelte mit kleinen Schritten immer weiter beiseite, so wie vielleicht eine Ratte vor einem Terrier zurückweicht, der sie von der anderen Seite des Zimmers aus beobachtet. Sein rundes Mopsgesicht war vor angstvoller Erwartung grau geworden. Seine Socken rutschten ihm über die Knöchel.
«Dieser Dummkopf», dröhnte die Rektorin und deutete mit dem Reitstock wie mit einem Degen auf ihn, «dieser widerliche Pickel, diese Pestbeule, diese Giftwarze, die ihr hier vor euch seht, ist nichts anderes als ein verachtenswerter Verbrecher, ein Bürger der Unterwelt, ein Mitglied der Mafia!»
«Wer, ich?» fragte Theo Torfkopp ehrlich verblüfft.
«Ein Dieb!» kreischte die Knüppelkuh. «Ein Hehler. Ein Seeräuber! Ein Straßenräuber! Ein Beutelschneider!»
«Also aber wirklich», sagte der Junge, «ich wollte sagen, das können Sie vergessen, Frau Rektorin.»
«Leugnest du etwa, du hinterlistiger kleiner Giftzwerg? Behauptest du, nicht schuldig zu sein?»
«Ich hab ja gar keine Ahnung, wovon Sie reden», sagte der Junge, der immer verwirrter wurde.
«Ich werd dir sagen, wovon ich rede, du ekelhafter kleiner Fettfleck!» schrie die Knüppelkuh. «Gestern vormittag bist du in der Pause wie eine Schlange in die Küche geschlichen und hast dir eine Scheibe von meinem privaten Schokoladenkuchen von meinem Teetablett gestohlen! Dieses Tablett war gerade ganz speziell für mich von der Köchin vorbereitet worden. Es war mein Vormittagsimbiß. Und was den Kuchen anbelangt, so stammte er aus meinen privaten Vorräten! Das war kein Kuchen für euch Knaben! Du bildest dir wohl keine Sekunde lang ein, daß ich den Fraß auch nur anrühre, den ich euch geben lasse? Dieser Kuchen war eine Torte, und der Teig enthielt echte Butter und wirkliche Sahne! Und er, dieser Bandit und Wegelagerer, dieser Safeknacker, dieser Räuber, der da drüben mit seinen Rutschestrümpfen steht, er hat die Torte gestohlen und verschlungen!»
«Hab ich nicht!» rief der Junge aus und wurde leichenblaß statt grau.
«Lüg mich nicht an, Torfkopp», bellte die Knüppelkuh, «die Köchin hat dich gesehen! Und nicht nur das, sie hat auch gesehen, wie du gekaut hast.»
Die Knüppelkuh hielt inne, um sich einen Flocken Schaum von den Lippen zu wischen.
Als sie abermals zu reden begann, klang ihre Stimme plötzlich milde und geschmeidig, und sie beugte sich mit einem Lächeln zu dem Knaben hinab. «Hat dir meine ganz spezielle Schokoladentorte gut geschmeckt, Torfkopp? Ist sie nicht köstlich? Schmeckt sie nicht lecker, Torfkopp?»
«Ja, sehr lecker», murmelte der Junge. Die Worte waren ihm entschlüpft, ehe er sich beherrschen konnte.
«Du hast recht», antwortete die Knüppelkuh, «sie ist überaus lecker. Deshalb bin ich der Ansicht, daß du der Köchin gratulieren solltest. Wenn ein Herr eine besonders gute Mahlzeit genossen hat, Torfkopp, dann läßt er dem Küchenchef immer seine Komplimente ausrichten. Das hast du nicht gewußt, nicht wahr, Torfkopp? Aber diejenigen, die sich in der Unterwelt der Verbrecher heimisch fühlen, zeichnen sich selten durch gute Manieren aus.»
Der Junge verharrte in Schweigen.
«Köchin!» rief die Knüppelkuh und wandte den Kopf zur Tür. «Herein mit Ihnen, Köchin! Torfkopp möchte Ihnen sagen, wie gut er Ihren Schokoladenkuchen findet.»
Die Köchin, eine große verschrumpelte Frau, die so aussah, als ob ihr schon vor langer Zeit der ganze Lebenssaft in einem heißen Backofen verdampft wäre, trat in einer schmutzigen weißen Schürze auf die Bühne.
Ihr Auftritt war ganz offensichtlich vorher von der Schulleiterin arrangiert worden.
«Also los, Torfkopp», dröhnte die Knüppelkuh, «sag der Köchin, was du von ihrem Schokoladenkuchen hältst.»
«Sehr gut», murmelte der Junge. Man konnte genau erkennen, wie er sich den Kopf zerbrach, auf was dieses alles hinauslief. Das einzige, was er genau wußte, war: das Gesetz verbot der Knüppelkuh, ihn mit der Reitgerte zu verprügeln, mit der sie sich ununterbrochen gegen die Schenkel schlug. Das war ein gewisser Trost, wenn auch ein schwacher, denn die Knüppelkuh war vollkommen unberechenbar. Man wußte nie, was sie als nächstes unternehmen würde.
«Na also, Köchin», rief die Knüppelkuh, «Torfkopp hat Ihre Torte geschmeckt. Er betet Ihre Torte an. Haben Sie nicht vielleicht noch ein bißchen Torte übrig, die Sie ihm geben könnten?»
«Das habe ich in der Tat», antwortete die Köchin. Sie schien diesen Satz auswendig gelernt zu haben.
«Dann holen Sie sie rasch. Und bringen Sie auch ein Messer mit, damit man sie anschneiden kann.»
Die Köchin verschwand. Doch fast im Handumdrehen war sie wieder da und wankte unter dem Gewicht einer gewaltigen runden Schokoladentorte auf einem Tortenteller aus Porzellan. Der Kuchen maß einen guten halben Meter im Durchmesser und war mit dunkelbrauner Schokoladenglasur überzogen. «Stellen Sie sie dort auf den Tisch», befahl die Knüppelkuh.
Auf der Bühne befand sich ein kleiner Tisch, hinter dem ein Stuhl stand. Die Köchin stellte die prachtvolle Torte vorsichtig auf dem Tisch ab.
«Setz dich, Torfkopp», sagte die Knüppelkuh, «setz dich hierher.»
Der Junge schob sich vorsichtig zum Tisch und setzte sich hin. Er starrte den riesenhaften Kuchen an.
«Da hast du’s nun, Torfkopp», sagte die Knüppelkuh, und ihre Stimme bekam abermals den sanften, überredenden, fast zärtlichen Ton. «Das ist alles für dich, bis zum letzten Bissen. Weil dir die eine Scheibe, die du gestern gegessen hast, so gut geschmeckt hat, hab ich der Köchin befohlen, eine extragroße Torte ganz allein für dich zu backen.»
«Oh, danke schön», sagte der Junge vollkommen verstört.
«Du mußt der Köchin danken, nicht mir», sagte die Knüppelkuh.
«Vielen Dank, Köchin», sagte der Junge.
Die Köchin stand wie ein zusammengeschnirrter Schnürsenkel da, Lippen fest zusammengepreßt, feindselig, mißgünstig. Sie sah so aus, als ob sie in eine Zitrone gebissen hätte.
«Also los», sagte die Knüppelkuh, «warum schneidest du dir nicht eine schöne dicke Scheibe ab und kostest die Torte erst einmal?»
«Was? Jetzt?» fragte der Junge mißtrauisch. Er wußte, daß die Sache irgendeinen Haken hatte, nur nicht wo. «Kann ich sie nicht einfach mit nach Hause nehmen?» fragte er.
«Das wäre unhöflich», antwortete die Knüppelkuh mit einem boshaften Grinsen. «Du mußt der Köchin hier doch zeigen, wie dankbar du ihr für all die Arbeit und Mühe bist, die sie auf sich genommen hat.»
Der Junge regte sich nicht.
«Also hopp jetzt, fang an», sagte die Knüppelkuh. «Schneid dir eine Scheibe ab und beiß rein. Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.»
Der Junge hob das Messer auf und war schon im Begriff, in die Torte zu schneiden, als er innehielt. Er beäugte die Torte. Dann schaute er zur Knüppelkuh empor, dann zu der langen dürren Köchin mit ihrem Zitronensaftmund. Alle Kinder in der Aula sahen gespannt zu und warteten darauf, daß irgend etwas geschah. Denn das, hatten sie das Gefühl, war unvermeidlich. Die Knüppelkuh gehörte nicht zu den Menschen, die einem eine ganze Schokoladentorte aus reiner Nächstenliebe schenkten. Einige tippten darauf, daß sie mit Pfeffer oder Rizinusöl gefüllt war oder irgendeine Zutat enthielt, die so ekelerregend schmeckte, daß der Junge wie ein Reiher würde kotzen müssen. Es konnte auch Arsen sein, und dann würde er in genau zehn Sekunden tot umfallen. Oder vielleicht war es eine Scherztorte, und das ganze Ding flog in die Luft, sowie man es anschnitt, wobei Torfkopp mitgerissen würde. Alles das trauten die Schüler der Knüppelkuh zu, ohne mit der Wimper zu zucken.