«Geht’s dir nicht gut, Lavendel?» fragte Fräulein Honig vom Tischende.
«Ich hab so viel gefrühstückt», antwortete Lavendel, «ich kann wirklich noch nichts wieder essen.»
Sofort nach dem Essen stürzte sie in die Küche und nahm sich einen der berühmten Knüppelkuh-Krüge. Es war ein großes dickes Ding aus blauglasiertem Steingut. Lavendel füllte den Krug halb mit Wasser voll, trug ihn mit einem Glas ins Klassenzimmer und stellte ihn auf den Lehrertisch. Blitzgeschwind holte Lavendel ihren Griffelkasten aus dem Ranzen und schob den Deckel nur ein klitzekleines bißchen auf. Der Wassermolch lag reglos da. Da hob sie den Kasten mit großer Vorsicht über die Schnauze des Kruges, zog den Deckel ganz und gar auf und kippte den Molch hinein. Es platschte, als er im Wasser landete, und dann fuhr er ein paar Sekunden lang wie wild herum, ehe er sich in dem Krug einrichtete. Und damit er sich dort auch richtig wie zu Hause fühlte, beschloß Lavendel, ihm auch das Grünzeug aus dem Griffelkasten ins Wasser zu geben.
Damit war die Tat getan. Alles war fertig und vorbereitet. Lavendel packte ihre Bleistifte wieder in den ziemlich feuchten Griffelkasten und stellte diesen auf seinen angestammten Platz auf ihrem eigenen Pult. Dann lief sie hinaus und gesellte sich zu den anderen auf dem Schulhof, bis es Zeit für die nächste Unterrichtsstunde war.
Schlag zwei Uhr versammelte sich die Klasse wieder, Fräulein Honig eingeschlossen, die sich davon überzeugte, daß der Wasserkrug und das Glas an ihrem Platz standen. Dann nahm sie den ihren ein und stellte sich hinten in das Zimmer. Und schon nahte die gewaltige Gestalt der Schulleiterin in ihrem gegürteten Kittel und den grünen Kniehosen und marschierte herein.
«Guten Tag, Kinder», bellte sie.
«Guten Tag, Fräulein Knüppelkuh», zirpten sie.
Die Schulleiterin stellte sich vor der Klasse auf, Beine gespreizt, Hände auf den Hüften, und funkelte die kleinen Buben und Mädchen an, die voller Unruhe vor ihr an ihren Pulten saßen.
«Kein sehr erfreulicher Anblick», sagte sie. Ihre Miene drückte tiefsten Ekel aus, als ob sie etwas betrachtete, was ein Hund mitten auf dem Fußboden erledigt hatte. «Was seid ihr nur für eine Horde von kotzwürdigen kleinen Kröpsen.»
Alle waren vernünftig genug, um mucksmäuschenstill zu bleiben.
«Ich möchte mich übergeben», fuhr sie fort, «wenn ich nur daran denke, daß ich mich in den nächsten sechs Jahren mit so einem Haufen Müll in meiner Schule befassen muß, wie ihr es seid. Aber ich werde schon dafür sorgen, daß möglichst viele rausfliegen, und zwar ein bißchen plötzlich, sonst wär’s ja nicht zum Aushalten.» Sie hielt inne und schnaubte ein paarmal. Das war ein merkwürdiges Geräusch. Man kann die gleichen Töne hören, wenn man einmal beim Füttern durch einen Pferdestall geht. «Ich nehme an», fuhr sie fort, «daß euch eure Mütter und Väter einblasen, ihr wäret wunderbar. Also, ich bin hier, um euch das Gegenteil zu sagen, und ihr solltet lieber mir glauben. Alle Mann aufgestanden!»
Sie stellten sich geschwind auf ihre Füße.
«Jetzt die Hände nach vorne gestreckt. Und wenn ich an euch vorbeigehe, dann wünsche ich, daß ihr sie umdreht, damit ich prüfen kann, ob sie von beiden Seiten sauber sind.»
Die Knüppelkuh begann einen langsamen Marsch zwischen den Bankreihen hindurch und inspizierte die Hände. Alles ging gut, bis sie zu einem kleinen Jungen in der zweiten Reihe kam.
«Dein Name?» bellte sie.
«Nigel», antwortete der Junge.
«Nigel was?»
«Nigel Hicks», sagte der Junge.
«Nigel Hicks was?» bellte die Knüppelkuh. Sie bellte so laut, daß sie den kleinen Kerl fast durchs Fenster gepustet hätte.
«Das ist alles», antwortete Nigel, «außer Sie wollen meinen zweiten Vornamen auch noch wissen.» Er war ein tapferer kleiner Junge, und man konnte sehen, daß er versuchte, sich nicht in Angst und Schrecken versetzen zu lassen von der Menschenfresserin, die da vor ihm aufragte.
«Ich bin nicht im geringsten an deinem zweiten Vornamen interessiert, du Wanze!» bellte die Menschenfresserin. «Wie lautet mein Name?»
«Fräulein Knüppelkuh», antwortete Nigel.
«Dann benutz ihn gefälligst, wenn du mit mir sprichst! Also los, wollen wir es noch mal versuchen. Wie heißt du?»
«Nigel Hicks, Fräulein Knüppelkuh», entgegnete Nigel.
«Schon besser», knurrte die Knüppelkuh. «Deine Hände starren vor Dreck, Nigel! Wann hast du sie das letzte Mal gewaschen?»
«Also, da muß ich mal nachdenken», sagte Nigel. «Es ist ziemlich schwer, sich genau daran zu erinnern. Es könnte gestern gewesen sein, oder vielleicht auch vorgestern.»
Der ganze Körper der Knüppelkuh samt ihrem Gesicht schienen so anzuschwellen, als ob sie jemand mit der Fahrradpumpe aufgepumpt hätte. «Wußte ich’s doch!» bellte sie. «Ein Blick auf dich, und ich hab genau gewußt, daß du nichts als ein Stück Dreck bist. Was tut dein Vater, karrt er den Müll weg?»
«Er ist Arzt», antwortete Nigel, «und ein richtig guter. Er sagt, wir sind alle miteinander so voll von Bazillen, daß einem ein bißchen Extradreck auch nicht viel schadet.»
«Da bin ich nur froh, daß er nicht mein Hausarzt ist», sagte die Knüppelkuh. «Und wenn ich fragen dürfte, warum klebt dir eine gebackene Bohne vorne am Hemd?»
«Die gab’s zu Mittag, Fräulein Knüppelkuh.»
«Und schmierst du dir immer dein Mittagessen vorne aufs Hemd, Nigel? Hat dir das dein berühmter Arzt-Vater beigebracht?»
«Gebackene Bohnen lassen sich schlecht essen, Fräulein Knüppelkuh. Sie fallen mir immer von der Gabel.»
«Du bist ekelhaft!» fauchte die Knüppelkuh. «Du bist eine wandelnde Bazillenfabrik! Ich wünsche nicht, dich heute noch einmal zu sehen. Los, stell dich in die Ecke, und zwar auf einem Bein und mit dem Gesicht zur Wand!»
«Aber Fräulein Knüppelkuh...»
«Keine Widerworte, Junge. Sonst laß ich dich Kopfstand machen! Also tu, was ich dir gesagt habe!»
Nigel schlich davon.
«Jetzt bleib, wo du bist, Junge, während ich deine Rechtschreibung prüfe, um zu sehen, ob du in dieser Woche überhaupt etwas gelernt hast. Und dreh dich nicht um, wenn du mit mir sprichst. Laß dein scheußliches kleines Gesicht an der Wand. Und jetzt los, buchstabier Pferd.»
«Welches denn?» fragte Nigel. «Das, was der Wagen tut, oder das, was den Wagen zieht?» Er war zufällig ein ungewöhnlich aufgewecktes Kind, und seine Mutter hatte ihm schon zu Hause ziemlich viel Lesen und Schreiben beigebracht.
«Das, was den Wagen zieht, du Holzkopf!»
Nigel buchstabierte das Wort fehlerfrei, was die Knüppelkuh verblüffte. Sie hatte sich eingebildet, sie hätte ihm ein Wort mit besonders vielen Fußfallen gegeben, eins, das er vielleicht noch gar nicht gehabt hatte, und es verdarb ihr die Laune, daß er die Aufgabe richtig gelöst hatte.
Da sagte Nigel, der immer noch auf einem einzigen Bein balancierte und die Klassenwand anschaute: «Fräulein Honig hat uns gestern beigebracht, ein ganz langes neues Wort zu buchstabieren.»
«Und was ist das für ein Wort gewesen?» fragte die Knüppelkuh mit milder Stimme. Je milder ihre Stimme wurde, desto größer wurde die Gefahr. Aber das konnte Nigel noch nicht wissen.