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Fräulein Honig wartete geduldig, sie zitterte und bebte selbst etwas, und sie ließ das Kind nicht aus den Augen, während es sich langsam ins Bewußtsein zurückbewegte. Und dann plötzlich, klick, erstrahlte eine fast himmlische Ruhe auf seinem Gesicht. «Mir geht’s gut», sagte Matilda und lächelte, «mir geht’s wirklich gut, Fräulein Honig. Sie brauchen sich nicht zu erschrecken.»

«Es kam mir so vor, als wärst du ganz weit weg gewesen», flüsterte Fräulein Honig ehrfürchtig.

«Ach, das war ich auch. Ich bin auf silbernen Schwingen weit hinter den Sternen geflogen», sagte Matilda, «es war wunderbar.»

Fräulein Honig starrte das Kind immer noch in tiefem Staunen an, als ob es die Schöpfung wäre, der Anfang der Welt, der erste Morgen.

«Diesmal ging’s viel schneller», bemerkte Matilda ruhig.

«Das ist doch nicht möglich!» keuchte Fräulein Honig. «Ich kann es nicht glauben! Ich kann es einfach nicht glauben!» Sie kniff die Augen zu und hielt sie ziemlich lange geschlossen, und als sie sie wieder aufschlug, schien sie ihre Fassung zurückgewonnen zu haben. «Würdest du wohl gerne Tee mit mir in meinem kleinen Häuschen trinken?» fragte sie.

«O ja, furchtbar gern», antwortete Matilda.

«Gut. Dann räum deine Sachen zusammen. In ein paar Minuten treffen wir uns draußen.»

«Aber Sie werden doch keinem davon erzählen... Von dem, was ich gemacht hab, nicht wahr, Fräulein Honig?»

«Ich denke nicht im Traum daran», antwortete Fräulein Honig.

Fräulein Honigs Häuschen

Fräulein Honig gesellte sich draußen vor den Schultoren zu Matilda, und die beiden schritten schweigend die Hauptstraße des Ortes entlang. Sie gingen am Obst- und Gemüseladen mit seiner Auslage voll Orangen und Äpfeln vorbei, am Fleischer mit seinem Angebot von blutigen Fleischstücken und aufgehängten gerupften Hühnern, an der kleinen Bank, am Lebensmittelladen und am Elektriker, und dann kamen sie am anderen Ende der Stadt bei der schmalen Landstraße heraus, wo kein Mensch mehr zu sehen war und auch kaum Verkehr herrschte.

Und jetzt, wo sie vollkommen allein waren, wurde Matilda plötzlich wild und ausgelassen. Sie führte sich auf, als ob in ihrem Innersten ein Damm gebrochen wäre und einen gewaltigen Schwall von Lebenskraft freigegeben hätte. Sie hüpfte und hopste wie toll neben Fräulein Honig her, ihre Finger flatterten in der Luft, als ob sie sie in alle vier Himmelsrichtungen schnicken wollte, und die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus, so geschwind wie davonzischende Feuerwerksraketen. Es war Fräulein Honig dies und Fräulein Honig das – «Fräulein Honig, ich glaub ganz bestimmt, daß ich fast alles auf der Welt in Bewegung setzen könnte, nicht nur Wassergläser und solchen anderen Kleinkram... Ich hab das Gefühl, daß ich Tische und Stühle umstürzen könnte, Fräulein Honig... Selbst wenn noch wer auf den Stühlen säße, selbst dann glaub ich sicher, daß ich sie umstoßen könnte, und größere Sachen auch, viel größere Sachen als Tische und Stühle... Ich brauch nur einen Augenblick, um meine Augen stark zu machen, und dann kann ich damit zustoßen, mit dieser Stärke, gegen einfach alles, ich muß es nur lange genug ganz fest anschauen... Ich muß es regelrecht anstarren, Fräulein Honig, ganz, ganz fest, und dann merke ich, was da alles hinter meinen Augen passiert, und meine Augen werden so heiß, als ob sie glühten, aber das macht mir nichts aus, nicht im geringsten, und, Fräulein Honig...»

«Beruhig dich doch, Kind, beruhige dich», sagte Fräulein Honig, «wir wollen uns nicht jetzt schon gleich so aufregen.»

«Aber Sie finden das doch interessant, nicht wahr, Fräulein Honig?»

«O ja, interessant ist es schon», antwortete Fräulein Honig, «es ist mehr als interessant. Aber wir müssen von jetzt an Vorsicht walten lassen, Matilda.»

«Warum müssen wir Vorsicht walten lassen, Fräulein Honig?»

«Weil wir mit geheimnisvollen Kräften spielen, mein Kind, von denen wir nicht das geringste wissen. Ich halte sie nicht für schlecht, sie können sogar gut sein. Vielleicht sind sie sogar göttlich. Aber ganz egal, wie sie sind, vorsichtig müssen wir auf jeden Fall damit umgehen.»

Das waren weise Worte von einer klugen alten Eule, aber Matilda war viel zu aufgekratzt, um die Sache so zu betrachten. «Ich begreif nicht, warum wir so vorsichtig sein müssen», sagte sie und hüpfte immer weiter herum.

«Ich versuche dir ja gerade zu erklären», antwortete Fräulein Honig geduldig, «daß wir uns mit etwas Unbekanntem befassen. Es ist etwas Unerklärliches. Die richtige Bezeichnung dafür lautet: es ist ein Phänomen.»

«Bin ich auch ein Phänomen?» fragte Matilda.

«Es könnte durchaus möglich sein, daß du eins bist», sagte Fräulein Honig. «Aber es wäre mir sehr viel angenehmer, wenn du dir in dieser Situation nicht als etwas Besonderes vorkämst. Ich hatte mir gedacht, daß wir dieses Phänomen etwas genauer untersuchen könnten, nur wir beide, aber wir müssen uns darauf einigen, daß wir die Sache mit äußerster Vorsicht anpacken.»

«Wollen Sie, daß ich noch so was mache, Fräulein Honig?»

«Das hatte ich im Sinn, dir vorzuschlagen», erwiderte Fräulein Honig zurückhaltend.

«Toll», sagte Matilda.

«Ich selber», fuhr Fräulein Honig fort, «bin wahrscheinlich über das, was du getan hast, sehr viel mehr aus der Fassung geraten als du, und ich versuche eine vernünftige Erklärung zu finden.»

«Wie zum Beispiel?» fragte Matilda.

«Ob das zum Beispiel damit zusammenhängt oder nicht, daß du ganz außergewöhnlich frühreif bist.»

«Und was heißt das genau?» fragte Matilda weiter.

«Ein frühreifes Kind», erklärte Fräulein Honig, «läßt schon verhältnismäßig früh erstaunlich viel Intelligenz erkennen. Du bist ein unglaublich frühreifes Kind.»

«Wirklich?» fragte Matilda.

«Aber natürlich. Du mußt das doch merken. Denk doch nur an dein Lesen. Oder an dein Rechnen.»

«Wahrscheinlich haben Sie recht», sagte Matilda.

Fräulein Honig wunderte sich wieder über Matildas Mangel an Selbstbewußtsein und Eitelkeit.

«Ich muß immer darüber nachdenken», sagte sie, «ob diese plötzliche Gabe, die du nun besitzt, nicht etwas mit deiner Geisteskraft, deinem besonderen Gehirn, zu tun hat.»

«Wollen Sie damit sagen, daß es dem Hirn in meinem Schädel zu eng ist und daß es sich deshalb rausdrängelt?»

«So hab ich’s eigentlich nicht gemeint», sagte Fräulein Honig und lächelte. «Aber was auch passiert, ich muß das noch einmal wiederholen, wir müssen von nun an sehr vorsichtig damit umgehen. Ich habe nicht vergessen, wie fremd und fern dein Gesicht geschimmert hat, nachdem du das Wasserglas umgekippt hattest.»

«Glauben Sie, daß es mir schadet? Glauben Sie das, Fräulein Honig?»

«Du hast dich ziemlich merkwürdig dabei gefühlt, nicht wahr?»

«Ich hab mich herrlich gefühlt», antwortete Matilda. «Ein oder zwei Augenblicke lang bin ich auf Silberschwingen an den Sternen vorbeigeflogen. Das hab ich Ihnen ja erzählt. Und soll ich Ihnen noch etwas verraten, Fräulein Honig? Das zweite Mal ging es leichter, viel, viel leichter. Ich glaube, es ist wie bei allem anderen, je mehr man übt, desto leichter flutscht es.»