«Ist das genug?» fragte sie, nachdem sie es hineingetragen hatte.
«Gerade ausreichend», antwortete Fräulein Honig. «So etwas hast du wohl noch nie gemacht?»
«Nie in meinem ganzen Leben», antwortete Matilda. «Es macht Spaß. Wie kriegen Sie genug Wasser für Ihr Bad?»
«Ich bade gar nicht», sagte Fräulein Honig, «ich wasche mich im Stehen. Ich hole mir einen Eimer Wasser, und das mache ich mir hier auf diesem kleinen Herd heiß, und dann ziehe ich mich aus und wasche mich von Kopf bis zu den Füßen.»
«Ehrlich, das tun Sie?» fragte Matilda.
«Natürlich», sagte Fräulein Honig, «es ist noch gar nicht lange her, da haben sich alle armen Leute in England so gewaschen. Und sie hatten noch nicht einmal einen Primuskocher. Sie mußten sich das Wasser auf dem Herdfeuer warm machen.»
«Sind Sie arm, Fräulein Honig?»
«Ja», antwortet Fräulein Honig, «ziemlich. Das ist ein guter kleiner Herd, nicht wahr?» Der Primuskocher ließ eine starke blaue Flamme röhren, und im Wasser im Topf begannen schon Blasen aufzusteigen. Fräulein Honig nahm einen Teetopf aus dem Hängeschrank und schüttete etwas Tee hinein. Sie entdeckte auch noch einen kleinen Laib Schwarzbrot. Sie schnitt zwei dünne Scheiben ab und strich etwas Margarine aus einer Plastikdose auf das Brot.
Margarine, dachte Matilda, sie muß wirklich arm sein.
Fräulein Honig nahm ein Tablett und stellte die beiden Becher, den Teetopf, die halbe Flasche Milch und einen Teller mit den beiden Brotscheiben darauf. «Es tut mir leid, aber ich habe keinen Zucker», sagte sie, «ich nehme niemals welchen.»
«Ich auch nicht», sagte Matilda. Sie schien sich in ihrer Weisheit vollkommen der heiklen Lage bewußt zu sein und gab sich große Mühe, nichts zu sagen, was ihre Gefährtin in Verlegenheit bringen könnte.
«Wir wollen den Tee im Wohnzimmer trinken», schlug Fräulein Honig vor, nahm das Tablett und ging vor, aus der Küche heraus durch den dunklen kleinen Tunnel hinüber in das Vorderzimmer. Matilda folgte ihr, aber in der Tür des sogenannten Wohnzimmers blieb sie wie festgenagelt stehen und schaute sich starr vor Staunen um. Der Raum war so klein, rechteckig und kahl wie eine Gefängniszelle. Das schwache Tageslicht, das hereinschien, kam durch ein winziges Fenster an der Vorderfront, vor dem keine Vorhänge hingen. Die einzigen Gegenstände in dem ganzen Raum waren zwei umgedrehte Holzkisten, die als Stühle dienten, und dazwischen eine dritte Kiste als Tisch. Das war alles. An den Wänden hingen keine Bilder, auf dem Boden lag kein Teppich, man sah nur die rohen Dielenbretter, und in den Ritzen dazwischen hatten sich Staubflocken und Dreckkrümel angesammelt. Die Decke war so niedrig, daß Matilda nur hätte hochzuspringen brauchen, schon hätte sie sie mit den Fingerspitzen berührt. Die Wände waren weiß, aber es sah nicht wie Farbe aus. Matilda rieb mit der flachen Hand darüber, und ein weißer Staub blieb daran haften. Es war Tünche, die einfache Kalkmilch, die man zum Weißen von Scheunen, Kuh- und Hühnerställen benutzt.
Matilda war verstört. Wohnte ihre ordentliche und immer so adrett gekleidete Lehrerin wirklich hier? Mußte sie nach ihrer Tagesarbeit immer hierher zurückkehren? Das war unglaublich. Und was konnte es für einen Grund dafür geben? Dahinter mußte etwas ganz Merkwürdiges stecken.
Fräulein Honig stellte das Tablett auf eine der hochkant gestellten Kisten. «Setz dich, mein Liebes, setz dich doch», sagte sie, «und dann wollen wir eine schöne Tasse Tee trinken. Nimm dir ein Stück Brot. Die beiden Scheiben sind für dich. Ich nehme nie etwas zu mir, wenn ich nach Hause komme. Ich greife mittags in der Schule tüchtig zu, und das reicht mir dann bis zum nächsten Morgen.»
Matilda ließ sich vorsichtig auf einer umgekippten Kiste nieder, griff mehr aus Höflichkeit nach einem Stück Margarinebrot und fing an, es zu essen. Zu Hause hätte sie Toast mit Butter und Erdbeermarmelade bekommen und zum Abschluß wahrscheinlich noch ein Stück Biskuittorte. Trotzdem machte ihr dies hier sehr viel mehr Spaß. Es gab ein Geheimnis in diesem Haus. Ein großes Geheimnis, das stand außer Zweifel, und Matilda platzte geradezu vor Neugier. Sie wollte herausfinden, was das für ein Geheimnis war.
Fräulein Honig schenkte den Tee ein und goß in jede Tasse ein wenig Milch. Es schien ihr nicht das geringste auszumachen, in einem kahlen Raum auf einer umgekehrten Kiste zu sitzen und Tee aus einem Becher zu trinken, den sie auf ihren Knien balancierte.
«Weißt du», sagte sie, «ich habe über das, was du mit dem Glas gemacht hast, sehr gründlich nachgedacht. Du weißt sicher, mein Kind, daß dir eine große Macht verliehen worden ist.»
«Ja, Fräulein Honig, das weiß ich», antwortete Matilda und kaute ihr Margarinebrot.
«Soviel ich weiß», fuhr Fräulein Honig fort, «hat bis jetzt noch keiner in der Weltgeschichte einen Gegenstand bewegen können, ohne daß er ihn berührt oder dagegengepustet oder irgendeine andere fremde Hilfe in Anspruch genommen hätte.»
Matilda nickte schweigend.
«Es wäre faszinierend», sagte Fräulein Honig, «wenn man die wirkliche Grenze deiner Kraft herausbekommen könnte. Ja, ja, ich weiß, du bildest dir ein, du könntest einfach alles in Bewegung setzen, was es gibt, aber gerade da habe ich meine Zweifel.»
«Ich würde wahnsinnig gerne irgend etwas Riesiges versuchen», sagte Matilda.
«Wie ist es mit der Entfernung?» fragte Fräulein Honig. «Mußt du immer dicht bei dem Gegenstand sein, den du bewegst?»
«Das weiß ich einfach nicht», antwortete Matilda, «aber es würde mir Spaß machen, das auszuprobieren.»
«Wir sollten das nicht übereilen», sagte Fräulein Honig, «laß uns lieber noch eine Tasse Tee trinken. Und iß die zweite Scheibe Brot. Du mußt doch hungrig sein.»
Matilda nahm sich die zweite Schnitte und fing an, sie langsam und bedächtig zu kauen. Die Margarine schmeckte gar nicht so schlecht. Sie bezweifelte, ob sie den Unterschied gemerkt hätte, wenn sie’s nicht gewußt hätte. «Fräulein Honig», sagte sie plötzlich, «werden Sie in unserer Schule so schlecht bezahlt?»
Fräulein Honig warf ihr einen wachsamen Blick zu. «Es geht», sagte sie, «ich bekomme ungefähr genausoviel wie die anderen.»
«Aber wenn Sie so schrecklich arm sind, muß das doch ziemlich wenig sein», sagte Matilda. «Leben alle Lehrer so wie Sie, ohne Möbel und Kochherd und Badezimmer?»
«Nein, das nicht», antwortete Fräulein Honig ziemlich steif, «ich bin nur zufällig eine Ausnahme.»
«Wahrscheinlich mögen Sie gerne ganz einfach leben», sagte Matilda, indem sie sich noch weiter vorwagte. «Es muß den Hausputz sehr viel einfacher machen, und Sie brauchen keine Möbel abzuledern und sich nicht um diese albernen kleinen Nippsachen zu kümmern, die überall rumstehen und die man jeden Tag abstauben muß. Und wenn man keinen Kühlschrank hat, dann muß man wahrscheinlich auch gar nicht aus dem Haus gehen und all dieses Zeug kaufen, Eier und Mayonnaise und Eiscreme, um den Kühlschrank vollzukriegen. Ja, man kann sich diese ganze Einkauferei sparen.»