An dieser Stelle merkte Matilda, wie sich Fräulein Honigs Gesicht verkrampfte und einen sonderbaren Ausdruck annahm. Ihr ganzer Körper war angespannt, die Schultern hochgezogen, die Lippen zusammengepreßt, so saß sie da, umklammerte mit beiden Händen den Teebecher und starrte so verbissen hinein, als ob sie dort eine Antwort auf diese gar nicht so unschuldigen Fragen suchte.
Es folgte ein ziemlich langes und bedrückendes Schweigen. Innerhalb von einer halben Minute hatte sich die Atmosphäre in dem kleinen Raum vollkommen verändert und vibrierte jetzt vor Verlegenheit und Geheimnissen. Matilda sagte: «Bitte verzeihen Sie mir, daß ich Sie all das gefragt habe, Fräulein Honig. Es geht mich ja nichts an.»
Daraufhin riß sich Fräulein Honig zusammen. Sie straffte die Schultern und stellte den Becher sehr umständlich und behutsam auf das Tablett.
«Warum hättest du nicht fragen sollen?» sagte sie. «Irgendwann hättest du es ohnehin getan. Du bist viel zu aufgeweckt, um dir keine Gedanken zu machen. Vielleicht wollte ich sogar, daß du fragst. Vielleicht habe ich dich nur aus diesem Grund hierher eingeladen. Du bist nämlich der allererste Besucher, seit ich vor zwei Jahren in dieses Häuschen eingezogen bin.»
Matilda schwieg. Sie konnte spüren, wie die Spannung im Raum immer stärker wurde.
«Du bist für deine Jahre so einsichtsvoll, mein Liebes», fuhr Fräulein Honig fort. «Das bringt mich immer wieder durcheinander. Du siehst wie ein Kind aus, aber in Wirklichkeit bist du überhaupt kein Kind, weil dein Verstand und deine Geisteskräfte ganz erwachsen zu sein scheinen. Ich glaube, wir sollten dich als ein erwachsenes Kind bezeichnen, wenn du weißt, was ich meine.»
Matilda schwieg noch immer. Sie wartete auf das, was als nächstes kommen mußte.
«Bis jetzt», fuhr Fräulein Honig fort, «war es mir unmöglich, mit einem anderen Menschen über meine Probleme zu sprechen. Ich hatte Angst vor den Aufregungen, und mir hat immer der Mut gefehlt. Was ich an Mut besessen hatte, das ist mir schon ausgetrieben worden, als ich noch ganz klein war. Aber jetzt habe ich plötzlich so etwas wie den verzweifelten Wunsch, jemandem alles zu erzählen. Ich weiß, du bist nur ein Kind, ein kleines Mädchen, aber irgendwo steckt ein Zauber in dir. Das habe ich mit eigenen Augen gesehen.»
Matilda wurde plötzlich sehr aufmerksam. Die Stimme, die sie hörte, rief ganz unverhüllt nach Hilfe. Ja, bestimmt. Es konnte gar nicht anders sein.
Dann erhob sich die Stimme wieder. «Willst du noch einen Schluck Tee?» sagte sie. «Ich glaube, es ist noch etwas da.»
Matilda nickte.
Fräulein Honig schenkte den Tee in die beiden Becher und gab etwas Milch hinzu. Wieder umschloß sie ihren Becher mit beiden Händen und trank mit kleinen Schlucken. Ein ziemlich langes Schweigen entstand, bis sie fragte: «Darf ich dir eine Geschichte erzählen?»
«Natürlich», antwortete Matilda.
«Ich bin dreiundzwanzig Jahre alt», sagte Fräulein Honig, «und als ich geboren wurde, war mein Vater hier am Ort der Arzt. Wir hatten ein hübsches altes Haus, ziemlich groß, aus rotem Backstein. Es liegt ganz verborgen im Wald, hinter den Hügeln. Ich glaube, du kennst es gar nicht.»
Matilda schwieg.
«Dort bin ich geboren worden», fuhr Fräulein Honig fort, «und dann ereignete sich die erste Tragödie. Meine Mutter starb, als ich zwei Jahre alt war. Mein Vater hatte viel zu tun und brauchte jemanden, der das Haus führte und sich um mich kümmerte. Er lud also die unverheiratete Schwester meiner Mutter, meine Tante, ein, zu uns zu ziehen. Sie war einverstanden und kam zu uns.»
Matilda hörte gespannt zu. «Wie alt war die Tante, als sie bei Ihnen einzog?» fragte sie.
«Noch nicht sehr alt», antwortete Fräulein Honig, «ich würde sagen, so um die Dreißig. Aber ich hab sie von Anfang an gehaßt. Ich vermißte meine Mutter entsetzlich, und die Tante war nicht sehr freundlich. Mein Vater wußte das nicht, weil er nur selten da war, aber wenn er auftauchte, führte sich meine Tante ganz anders auf.»
Fräulein Honig hielt inne und trank einen Schluck Tee. «Ich weiß wirklich nicht, warum ich dir das alles erzähle», sagte sie verlegen.
«Weiter», sagte Matilda, «bitte.»
«Na gut», sagte Fräulein Honig. «Dann ereignete sich die zweite Tragödie. Als ich fünf Jahre alt war, starb mein Vater ganz plötzlich. Von einem Tag auf den anderen. Und ich blieb allein mit meiner Tante zurück. Das Gericht bestimmte sie zu meinem Vormund. Sie hatte also das Sorgerecht für mich, konnte wie Eltern über mich bestimmen, und irgendwie wurde sie auch die eigentliche Besitzerin des Hauses.»
«Wie ist Ihr Vater denn gestorben?» fragte Matilda.
«Es ist interessant, daß du dich danach erkundigst», sagte Fräulein Honig. «Ich selbst war damals viel zu klein, um danach zu fragen, aber später habe ich festgestellt, daß es beträchtliche Unklarheiten um diesen Tod gegeben hat.»
«Hat man nicht gewußt, woran er gestorben ist?» fragte Matilda.
«Nein, nicht genau», erwiderte Fräulein Honig zögernd. «Weißt du, es wollte einfach niemand glauben, daß er so etwas getan hatte. Er war ein durch und durch gesunder und vernünftiger Mann.»
«Was getan hatte?» fragte Matilda.
«Sich das Leben genommen.»
Das verblüffte Matilda. «Hat er das wirklich getan?» stieß sie hervor.
«So hat es ausgesehen», sagte Fräulein Honig, «aber wer weiß?» Sie zuckte die Schultern und wandte sich ab und starrte zu dem winzigen Fenster hinaus.
«Ich weiß, was Sie denken», sagte Matilda, «Sie glauben, daß ihn die Tante getötet hat und daß sie es so eingerichtet hat, daß man denken mußte, er hätte es selber getan.»
«Ich denke gar nichts», erwiderte Fräulein Honig. «Wenn es keinen Beweis gibt, darf man so etwas nicht denken.»
In der kleinen Stube wurde es totenstill. Matilda merkte, daß die Hände, die den Becher umklammerten, leise bebten. «Und was ist danach passiert?» fragte sie. «Was ist mit Ihnen passiert, als Sie mit der Tante alleine waren? War sie nicht nett zu Ihnen?»
«Nett?» sagte Fräulein Honig. «Sie war ein Teufel. Sobald mein Vater aus dem Wege war, wurde sie ein wahres Schreckgespenst. Mein Leben wurde ein Angsttraum.»
«Was hat sie Ihnen denn angetan?» erkundigte sich Matilda.
«Darüber möchte ich nicht sprechen», sagte Fräulein Honig, «es ist zu schrecklich. Aber schließlich bekam ich solche Angst vor ihr, daß ich schon zu zittern anfing, wenn sie nur den Raum betrat. Ich bin niemals so ein starker Charakter wie du gewesen, verstehst du? Ich war immer schüchtern und scheu.»
«Haben Sie denn gar keine anderen Verwandten gehabt?» fragte Matilda. «Irgendwelche Onkel oder Tanten oder Omas, die Sie hätten besuchen können?»
«Soweit ich weiß, nicht», antwortete Fräulein Honig. «Sie waren alle entweder tot oder nach Australien ausgewandert. Und ich fürchte, daran hat sich bis heute nichts geändert.»
«Sie sind also alleine mit Ihrer Tante in dem Haus aufgewachsen», sagte Matilda, «aber Sie müssen doch in die Schule gegangen sein.»
«Natürlich», erwiderte Fräulein Honig, «ich bin in dieselbe Schule gegangen, die du jetzt besuchst. Aber gewohnt habe ich eben zu Hause.» Fräulein Honig hielt inne und starrte in ihren leeren Teebecher. «Also, was ich dir gerade zu erklären versuche», fuhr sie fort, «ist wohl, wie ich im Lauf der Jahre von diesem Tantenungetüm so vollständig geduckt und beherrscht wurde, daß ich auf der Stelle gehorchte, gleichgültig, was sie befahl. So etwas kann passieren, verstehst du. Und als ich glücklich zehn geworden war, hatte sie mich ganz und gar zu ihrer Sklavin gemacht. Ich erledigte die ganze Hausarbeit. Ich machte ihr Bett. Ich wusch und bügelte für sie. Ich bereitete alle Mahlzeiten zu. Ich hatte einfach alles gelernt.»