«Aber Sie hätten doch sicherlich irgend jemandem Ihr Herz ausschütten können?» fragte Matilda.
«Wem denn?» fragte Fräulein Honig. «Und außerdem, ich war viel zu verschreckt, um mich zu beschweren. Ich hab dir doch gesagt, ich war eine Sklavin.»
«Hat sie Sie geschlagen?»
«Wir wollen bitte nicht in die Einzelheiten gehen», sagte Fräulein Honig.
«Das ist ja einfach grauenhaft», sagte Matilda. «Haben Sie nicht die ganze Zeit geheult?»
«Nur wenn ich alleine war», antwortete Fräulein Honig. «Vor ihr durfte ich nicht weinen. Aber ich lebte in Angst und Schrecken.»
«Und was ist passiert, als Sie mit der Schule fertig waren?» fragte Matilda.
«Ich war eine gute Schülerin», sagte Fräulein Honig, «ich hätte leicht studieren können. Aber das kam gar nicht in Frage.»
«Warum nicht, Fräulein Honig?»
«Weil ich zu Hause benötigt wurde, für die ganze Arbeit.»
«Wie sind Sie denn dann Lehrerin geworden?» fragte Matilda.
«In Reading gibt es ein Lehrerinnenkolleg», sagte Fräulein Honig. «Dahin fährt man mit dem Bus nur vierzig Minuten. Ich bekam die Erlaubnis, dorthin zu fahren, allerdings nur unter der Bedingung, daß ich jeden Nachmittag geradewegs wieder nach Hause kam, um zu waschen und zu bügeln und das Haus zu putzen und das Essen zu kochen.»
«Wie alt sind Sie denn da gewesen?» fragte Matilda.
«Als ich in das Lehrerinnenkolleg ging, war ich achtzehn», antwortete Fräulein Honig.
«Sie hätten doch einfach packen und weggehen können», sagte Matilda.
«Nicht ohne eine Anstellung», sagte Fräulein Honig, «und du darfst nicht vergessen, da hatte mich meine Tante noch so unter der Fuchtel, daß ich mich gar nicht getraut hätte. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie das ist, wenn man von einer sehr starken Persönlichkeit so voll und ganz beherrscht wird. Da wirst du wie ein Wackelpudding. Tja, so ist das. Nun kennst du meine trübselige Lebensgeschichte. Und jetzt hab ich genug geredet.»
«Bitte, hören Sie nicht auf», sagte Matilda, «Sie sind ja noch nicht fertig. Wie haben Sie es schließlich doch geschafft, ihr zu entkommen und in diese komische kleine Hütte zu ziehen?»
«Ah, das war vielleicht was!» sagte Fräulein Honig. «Darauf bin ich richtig stolz.»
«Erzählen!» bat Matilda.
«Nun gut», fuhr Fräulein Honig fort, «als ich also eine Stelle als Lehrerin bekam, teilte mir die Tante mit, daß ich ihr ziemlich viel Geld schuldete. Ich fragte sie warum. Sie sagte: ‹Weil ich dich jahrelang ernährt habe und weil ich dir die Schuhe und die Kleider gekauft habe!› Sie sagte mir, das sei in die Tausende gegangen, und ich müßte ihr das alles zurückzahlen, indem ich ihr in den nächsten zehn Jahren mein Gehalt gäbe. ‹Ein Pfund pro Woche gebe ich dir als Taschengeld›, sagte sie, ‹aber darüber hinaus kriegst du nichts.› Dann hat sie mit der Schulbehörde abgemacht, daß mein Geld direkt auf ihr Bankkonto überwiesen wird. Sie zwang mich, diese Erklärung zu unterschreiben.»
«Das hätten Sie aber nicht tun sollen», sagte Matilda, «das Gehalt war Ihr Schlüssel zur Freiheit.»
«Ich weiß, ich weiß», sagte Fräulein Honig, «aber ich war fast mein ganzes Leben lang von ihr abhängig gewesen, und ich hatte nicht den Mut oder den Verstand, einfach nein zu sagen. Ich hatte immer noch eine Heidenangst vor ihr. Sie konnte mir immer noch viel Böses antun!»
«Und wie haben Sie’s dann doch geschafft, ihr zu entkommen?» fragte Matilda.
«Ah», sagte Fräulein Honig und lächelte zum erstenmal, «das war vor zwei Jahren. Und es war mein größter Triumph.»
«Ach bitte, erzählen Sie», bat Matilda.
«Ich stand immer sehr früh auf und machte einen Spaziergang, während meine Tante noch schlief», sagte Fräulein Honig, «und da bin ich eines Tages auf diese Hütte gestoßen. Sie stand leer. Ich kriegte heraus, wem sie gehörte. Das war ein Bauer. Ich suchte ihn auf. Bauern stehen auch ziemlich früh auf. Er melkte gerade seine Kühe. Ich fragte ihn, ob ich dieses Häuschen mieten könnte. ‹In dieser Kate kann doch keiner leben!› rief er. ‹Die hat ja keinen Wasseranschluß und kein gar nichts!› – ‹Ich will da wohnen›, sagte ich, ‹ich bin eine Romantikerin. Ich hab mich in die Kate verliebt. Bitte vermieten Sie sie mir.› – ‹Bei Ihnen piept’s wohl›, sagte er, ‹aber wenn Sie drauf beharren, na, dann bitte schön. Die Miete beträgt zehn Pence pro Woche.› – ‹Hier haben Sie eine Monatsmiete im voraus›, sagte ich und gab ihm vierzig Pence, ‹und auch herzlichen Dank!›»
«Das ist ja super!» rief Matilda. «Da haben Sie ganz plötzlich ein Häuschen für sich gehabt! Aber woher haben Sie den Mut genommen, es Ihrer Tante beizubringen?»
«Das war ein harter Brocken», sagte Fräulein Honig, «aber ich habe mich dafür gerüstet. Eines Abends habe ich ihr zuerst das Essen gekocht, und dann bin ich hinaufgegangen und hab die paar Sachen, die mir gehörten, in einen Karton gepackt und bin wieder nach unten gegangen und hab verkündet, daß ich sie verlasse. ‹Ich habe ein Haus gemietet›, hab ich gesagt. Meine Tante ist explodiert. ‹Ein Haus gemietet!› hat sie geschrien. ‹Wie kannst du ein Haus mieten, wenn du nur ein Pfund in der Woche zur Verfügung hast?› – ‹Ich hab’s getan›, hab ich gesagt. ‹Und wovon willst du dir das Essen kaufen?› – ‹Das schaff ich schon›, hab ich gemurmelt, und dann bin ich aus der Haustür gestürzt.»
«Das war aber tüchtig!» rief Matilda. «So sind Sie schließlich doch frei gekommen!»
«Ja, schließlich war ich frei», sagte Fräulein Honig. «Ich kann dir nicht sagen, wie wunderbar das war.»
«Und Sie haben es wirklich geschafft, hier zwei Jahre lang nur mit einem Pfund pro Woche auszukommen?» fragte Matilda.
«Und ob ich das geschafft habe», sagte Fräulein Honig. «Zehn Pence zahle ich als Miete, und der Rest reicht gerade aus, für meinen Kocher und für meine Lampe Paraffin zu kaufen und dann noch ein bißchen Milch und Tee, Brot und Margarine. Mehr brauche ich wirklich nicht. Und wie ich dir schon gesagt habe, mittags in der Schule lang ich tüchtig zu.»
Matilda starrte sie an. Wie war Fräulein Honig doch tapfer gewesen. Sie wurde in Matildas Augen plötzlich zur Heldin. «Ist es hier im Winter nicht schrecklich kalt?» fragte sie.
«Ich hab ja meinen kleinen Paraffin-Ofen», sagte Fräulein Honig. «Du wärst ganz erstaunt, wie mollig ich es mir hier drinnen machen kann.»
«Haben Sie denn ein Bett, Fräulein Honig?»
«Genaugenommen eigentlich nein», erwiderte Fräulein Honig und lächelte wieder, «aber man sagt ja, es sei gesund, hart zu schlafen.»
Plötzlich war Matilda imstande, die ganze Situation in absoluter Klarheit zu erkennen. Fräulein Honig brauchte Hilfe. Sie konnte so nicht weiter existieren, nicht unbegrenzt lange. «Sie würden viel besser zurechtkommen, Fräulein Honig», sagte sie, «wenn Sie Ihre Stelle aufgeben und Arbeitslosengeld beziehen.»
«Ich denke gar nicht daran», sagte Fräulein Honig, «ich unterrichte für mein Leben gern.»
«Und diese gräßliche Tante», sagte Matilda, «wohnt sie immer noch in Ihrem schönen alten Haus?»
«Das kann man wohl sagen», entgegnete Fräulein Honig. «Sie ist erst gerade über Fünfzig. Sie hat wohl noch eine ziemlich lange Zeit vor sich.»