In Matildas Schlafzimmer stand ein kleiner Frisiertisch, auf dem ihr Kamm und ihre Bürste lagen und zwei Bücher aus der Bibliothek. Sie räumte diese Gegenstände beiseite und legte statt dessen die Zigarre mitten auf den Frisiertisch. Dann ging sie ein paar Schritte weg und ließ sich am Fußende ihres Betts nieder. Sie war jetzt etwa drei Meter von der Zigarre entfernt.
Sie setzte sich zurecht und begann sich zu konzentrieren, und diesmal spürte sie sehr rasch, wie die Elektrizität in ihrem Kopf zu strömen begann, sich hinter den Augen zusammenballte, wie die Augen heiß wurden und wie Millionen von unsichtbaren winzigen Händen wie Funken gegen die Zigarre zu stieben und zu stoßen begannen. «Beweg dich!» flüsterte sie, und zu ihrer namenlosen Verblüffung rollte die Zigarre mit ihrer kleinen rotgoldenen Bauchbinde aus Papier fast sofort quer über den Frisiertisch und kullerte auf den Teppich.
Das machte Matilda Spaß. Sie genoß diese Übung. Sie hatte das Gefühl gehabt, als ob ihr im Kopf Funken im Kreise herumgejagt und aus den Augen geschossen wären. Das hatte ihr ein Gefühl der Macht verliehen, das fast unirdisch war. Und wie schnell es diesmal geklappt hatte! Wie einfach es gewesen war!
Sie durchquerte das Schlafzimmer, hob die Zigarre auf und legte sie wieder auf den Tisch.
So, jetzt also zum schwierigen Teil, dachte sie. Denn wenn ich die Kraft zum Schieben habe, muß ich doch auch sicher die zum Heben haben. Das Allerwichtigste ist, daß ich lerne, wie man hebt. Ich muß unter allen Umständen lernen, wie sie sich in die Luft heben und dort halten läßt. Es ist ja nichts sehr Schweres, so eine Zigarre.
Sie setzte sich wieder aufs Fußende des Betts und fing von vorn an. Es fiel ihr jetzt leicht, die Kraft hinter den Augen zu sammeln.
Es war, als drückte man auf einen Auslöser im Gehirn. «Heb dich in die Höhe!» flüsterte sie. «Hoch! Hoch!»
Zuerst fing die Zigarre wieder an herumzukullern. Doch dann, weil sich Matilda wie verrückt konzentrierte, hob sich das eine Ende der Zigarre ganz langsam vom Tisch, vielleicht zwei oder drei Zentimeter hoch. Mit einer kolossalen Kraftanstrengung schaffte sie es, sie so etwa zehn Sekunden zu halten. Dann fiel sie wieder zurück.
«Puh!» keuchte sie. «Aber ich hab’s! Ich fang an, es zu schaffen!»
In der nächsten Stunde übte Matilda ununterbrochen, und schließlich gelang es ihr, die ganze Zigarre nur durch die Kraft ihrer Augen etwa zwanzig Zentimeter vom Tisch hoch in die Luft zu heben und sie dort fast eine Minute lang in der Schwebe zu halten. Danach war sie plötzlich so erschöpft, daß sie rückwärts aufs Bett fiel und sofort einschlief.
So fand sie ihre Mutter später am Abend.
«Was ist denn los mit dir?» sagte sie und weckte sie auf. «Bist du krank?»
«Ach, Quatsch», sagte Matilda, richtete sich auf und schaute sich um. «Nein, mir geht’s gut. Ich war ein bißchen müde, das ist alles.»
Von da an schloß sich Matilda jeden Tag nach der Schule in ihrem Zimmer ein und übte mit der Zigarre. Und bald entwickelte sich alles aufs beste. Sechs Tage später, also am folgenden Mittwochnachmittag, war sie nicht nur imstande, die Zigarre in die Luft zu heben, sondern konnte sie auch ganz nach Belieben hin und her bewegen. Es war wunderbar. «Ich kann’s!» schrie Matilda. «Ich kann es wirklich! Ich kann die Zigarre mit meiner Augenkraft einfach aufheben und so durch die Luft stoßen und schieben, wie ich will!»
Jetzt mußte sie ihren großen Plan nur noch in Gang setzen.
Der folgende Tag war Donnerstag, also der Tag, wie die ganze Klasse von Fräulein Honig wußte, an dem die Schulleiterin die erste Unterrichtsstunde nach der Mittagspause zu übernehmen pflegte.
Am Morgen hatte Fräulein Honig zu ihnen gesagt: «Einigen von euch hat es neulich nicht besonders gefallen, als die Frau Rektorin die Klasse übernommen hatte. Deshalb wollen wir heute alle versuchen, uns besonders vorsichtig und vernünftig zu betragen. Was machen denn deine Ohren, Erich, nach diesem letzten Zusammentreffen mit Fräulein Knüppelkuh?»
«Sie hat sie ausgeleiert», antwortete Erich. «Meine Mutter hat gesagt, sie sind ganz bestimmt länger als vorher.»
«Und Rupert?» sagte Fräulein Honig. «Ich bin sehr erleichtert, weil ich sehe, daß du seit dem letzten Donnerstag keine Haare mehr gelassen hast.»
«Mein Kopf hat aber danach ganz schön gebrannt», antwortete Rupert.
«Und du, Nigel», fuhr Fräulein Honig fort, «versuch heute bitte nicht wieder, der Frau Rektorin so schlau zu kommen. Du bist in der vergangenen Woche ganz schön frech gewesen.»
«Ich kann sie nicht ausstehen», antwortete Nigel.
«Zeig das lieber nicht so deutlich», sagte Fräulein Honig, «es zahlt sich nicht aus. Sie ist eine sehr kräftige Frau. Sie hat Muskeln wie Stahltrossen.»
«Ich wünschte, ich wäre schon groß», sagte Nigel, «dann würde ich sie umhauen.»
«Ich möchte bezweifeln, daß dir das gelänge», sagte Fräulein Honig, «bis jetzt hat sie noch keiner bezwungen.»
«Was wird sie uns denn heute nachmittag fragen?» erkundigte sich ein kleines Mädchen.
«Wohl sicherlich das Einmaldrei», antwortete Fräulein Honig. «Das habt ihr ja alle seit voriger Woche lernen sollen. Sorgt also dafür, daß ihr es könnt.»
Die Mittagspause kam und ging vorüber.
Nach dem Essen versammelte sich die Klasse wieder. Fräulein Honig stellte sich seitlich auf, die Kinder nahmen schweigend die Plätze ein und begannen voll Angst zu warten. Und dann brach die gewaltige Knüppelkuh in ihren grünen Hosen und dem Baumwollkittel wie ein Riesenweib aus der Urwelt in die Klasse ein. Sie marschierte geradewegs zu ihrem Wasserkrug, packte ihn am Griff, hob ihn auf und spähte mißtrauisch hinein.
«Ich bin entzückt», sagte sie, «daß diesmal keine schleimigen Geschöpfe in meinem Trinkwasser schwimmen. Hätten sie es getan, so wäre jedem einzelnen Kind in dieser Klasse etwas besonders Unangenehmes zugestoßen. Und das hätte Sie mit eingeschlossen, Fräulein Honig.»
Die Klasse verhielt sich mucksmäuschenstill, alle saßen angespannt da. Sie hatten diese Tigerin unterdessen ein wenig kennengelernt, und keiner wollte sie reizen. «Also gut», dröhnte die Knüppelkuh, «wollen wir mal sehen, wie gut ihr euer Einmaldrei beherrscht. Oder andersherum, wollen mal sehen, wie miserabel euch Fräulein Honig das Einmaldrei beigebracht hat.» Die Knüppelkuh stand vor der Klasse, Beine breit, Hände auf den Hüften, und warf einen finsteren Blick auf Fräulein Honig, die schweigend an der Seite stand.
Matilda, die vollkommen reglos auf ihrem Platz in der zweiten Reihe saß, verfolgte alles sehr genau.