«Donnerwetter, hat sie endlich doch einer zu Boden gestreckt!» rief einer der Männer und grinste. «Ich gratuliere, Fräulein Honig!»
«Wer hat das Wasser auf sie gegossen?» fragte die Hausmutter.
«Ich», antwortete Nigel stolz.
«Ausgezeichnet», sagte ein zweiter Lehrer, «sollen wir noch mehr holen?»
«Schluß damit», befahl die Hausmutter, «wir können sie ins Krankenzimmer transportieren.»
Alle fünf Lehrer und die Hausmutter mußten anpacken, um das gewaltige Weib in die Höhe zu wuchten und sie, unter ihrem Gewicht schwankend, aus dem Klassenzimmer zu tragen.
Fräulein Honig sagte zu den Kindern: «Ich glaube, ihr lauft jetzt am besten auf den Hof hinaus und spielt bis zur nächsten Unterrichtsstunde.» Dann drehte sie sich um, ging zur Tafel und wischte die Kreidebuchstaben sorgfältig ab.
Die Kinder fingen an, nacheinander aus der Klasse zu laufen. Matilda wollte sich ihnen anschließen, aber als sie an Fräulein Honig vorbeikam, blieb sie stehen und zwinkerte ihrer Lehrerin zu. Da rannte Fräulein Honig auf sie zu, schloß das kleine Mädchen heftig in die Arme und gab ihr einen Kuß.
Im Laufe des Tages verbreitete sich die Nachricht, daß Fräulein Knüppelkuh wieder zu sich gekommen und mit verkniffenem Mund und schneeweißem Gesicht aus der Schule marschiert sei.
Am nächsten Morgen ließ sie sich dort nicht blicken. In der Mittagspause rief Herr Trilby, der stellvertretende Schulleiter, bei ihr zu Hause an, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen. Es nahm jedoch niemand den Hörer ab.
Als die Schule zu Ende war, beschloß Herr Trilby, etwas gründlicher nachzuforschen, und machte sich auf den Weg zu dem Haus, in dem Fräulein Knüppelkuh am Rande der Ortschaft lebte. Ein hübsches kleines altes Haus aus rotem Backstein, das deshalb als das Rote Haus bekannt war. Es lag hinter den Hügeln ganz versteckt im Wald.
Er zog an der Glocke. Keine Antwort.
Er klopfte kräftig. Keine Antwort.
Er rief laut: «Ist jemand zu Hause?» Keine Antwort.
Er rüttelte versuchsweise an der Klinke und stellte zu seinem Erstaunen fest, daß die Tür nicht verschlossen war. Er trat ein.
Das Haus lag in tiefem Schweigen und war vollkommen verlassen. Alle Möbel standen jedoch an ihrem Platz. Herr Trilby ging hinauf und schaute in das große Schlafzimmer. Auch hier schien alles ganz normal zu sein, bis er anfing, Schubladen aufzuziehen und in Schränke zu blicken. Nirgends mehr fanden sich Kleider oder Unterwäsche oder Schuhe. Sie waren samt und sonders verschwunden.
Sie ist verduftet, sagte sich Herr Trilby und machte kehrt, um die Schulverwaltung davon zu informieren, daß die Rektorin ganz offensichtlich verschwunden war.
Am übernächsten Morgen erhielt Fräulein Honig einen eingeschriebenen Brief von einer Rechtsanwaltsfirma. Darin wurde sie davon unterrichtet, daß das Testament, der Letzte Wille ihres verblichenen Vaters Dr. Honig, plötzlich und unter geheimnisvollen Umständen wiederaufgetaucht sei. Dieses Dokument enthüllte nun, daß in Wirklichkeit Fräulein Honig seit dem Tod ihres Vaters die rechtmäßige Besitzerin des Anwesens am Stadtrand war, als das Rote Haus bekannt, in dem bis vor kurzem ein gewisses Fräulein Agatha Knüppelkuh gewohnt hatte. Dieses Dokument bewies weiterhin, daß die Ersparnisse ihres Vaters, die glücklicherweise immer noch unangetastet und sicher in der Bank ruhten, ihr ebenfalls vermacht worden waren. Der Rechtsanwalt schloß seinen Brief mit der Bitte, Fräulein Honig möge ihn doch so bald wie möglich in seiner Kanzlei aufsuchen. Dann könne er nämlich das Anwesen und das Geld in kürzester Zeit auf ihren Namen umschreiben.
Genauso machte es Fräulein Honig, und innerhalb von ein paar Wochen war sie in das Rote Haus gezogen, genau an den Ort, an dem sie aufgewachsen war und wo sie glücklicherweise all die Familienmöbel und Bilder noch vorfand.
Von da an war Matilda an jedem Nachmittag nach der Schule ein stets willkommener Gast im Roten Haus, und zwischen der Lehrerin und dem kleinen Mädchen begann sich eine innige Freundschaft zu entwickeln.
Auch in der Schule fanden große Veränderungen statt. Sobald es klar wurde, daß Fräulein Knüppelkuh vollkommen von der Bildfläche verschwunden war, wurde der verdienstvolle Herr Trilby an ihrer Stelle zum Schulleiter ernannt. Und bald danach wurde Matilda in die oberste Klasse versetzt, wo Fräulein Plimbim ziemlich rasch entdeckte, daß dieses erstaunliche Kind in jeder Hinsicht so aufgeweckt war, wie es Fräulein Honig behauptet hatte.
Ein paar Wochen später trank Matilda eines Nachmittags ihren Tee bei Fräulein Honig in der Küche vom Roten Haus, so wie sie es immer nach der Schule zu tun pflegten, als Matilda plötzlich sagte: «Mir ist etwas Komisches zugestoßen, Fräulein Honig.»
«Na, dann erzähl’s mir», sagte Fräulein Honig.
«Heute früh», sagte Matilda, «hab ich einfach aus Spaß probiert, irgend etwas mit meinen Augen in Bewegung zu setzen, und das hab ich nicht geschafft. Nichts hat sich geregt. Ich hab nicht einmal diese Hitze gespürt, die immer hinter meinen Augäpfeln entsteht. Die Kraft ist weg. ich glaube, ich hab sie ganz und gar verloren.»
Fräulein Honig bestrich sorgfältig eine Scheibe Graubrot mit Butter und kleckste etwas Erdbeermarmelade darauf. «Mit so etwas Ähnlichem hab ich schon gerechnet», sagte sie.
«Ach wirklich? Warum denn?» fragte Matilda.
«Na ja», antwortete Fräulein Honig, «es ist nur eine Vermutung, aber ich will dir sagen, was ich mir gedacht habe. Solange du in meiner Klasse warst, hast du nichts zu tun gehabt, hast um nichts kämpfen müssen. Dein Verstand ist dabei vor lauter Langeweile geradezu verrückt geworden. Es muß in deinem Kopf wie wild geblubbert und gekocht haben, und es haben sich einfach unermeßliche Kräfte angesammelt, die kein Ziel und keinen Sinn gehabt haben. Aber irgendwie muß es dir gelungen sein, diese Kraft durch deine Augen zu schießen und sie Gegenstände bewegen zu lassen. Aber jetzt hat sich die Lage geändert. Du bist in der obersten Klasse, und du hast es mit Kindern zu tun, die mehr als doppelt so alt sind wie du. Du brauchst also all deine Geisteskräfte für die Schule. Dein Verstand ist zum erstenmal richtig gefordert, muß sich anstrengen und wird in Bewegung gehalten, und das ist großartig. Freilich, das ist nur eine Theorie, vielleicht sogar eine ziemlich dummerhafte, aber mir kommt es doch so vor, als ob sie ziemlich die Wahrheit träfe.»
«Ich bin froh, daß das passiert ist», sagte Matilda, «ich wäre nicht gern als Wundertäter durchs Leben gewandert.»
«Du hast auch genug bewirkt», sagte Fräulein Honig. «Ich kann immer noch nicht richtig glauben, was du alles für mich getan hast.»
Matilda, die auf einem hohen Hocker am Küchentisch saß, kaute bedächtig ihr Marmeladenbrot. Sie genoß diese Nachmittage mit Fräulein Honig aus ganzem Herzen. Sie fühlte sich in ihrer Gegenwart vollkommen entspannt und glücklich, und die beiden unterhielten sich so miteinander, als ob sie mehr oder weniger gleichgestellt wären.
«Wissen Sie eigentlich», sagte Matilda, «daß ein Mäuseherz sechshundertfünfzigmal in der Minute schlägt?»
«Nein», erwiderte Fräulein Honig und lächelte, «das ist ja faszinierend. Wo hast du das gelesen?»
«In einem Buch aus der Bücherei», antwortete Matilda, «und das bedeutet, es schlägt so schnell, daß man die einzelnen Schläge gar nicht hören kann. Es muß einfach wie ein Summen klingen.»