«Wahrscheinlich», entgegnete Fräulein Honig.
«Und wie schnell schlägt Ihrer Meinung nach das Herz eines Igels?» fragte Matilda.
«Verrat es mir», sagte Fräulein Honig und lächelte wieder.
«Längst nicht so schnell wie bei einer Maus», erklärte Matilda, «nur dreihundertmal pro Minute. Aber trotzdem, hätten Sie gedacht, daß es so schnell schlägt bei einem Tier, das sich so langsam bewegt, hätten Sie das vermutet, Fräulein Honig?»
«Ganz gewiß nicht», antwortete Fräulein Honig, «erzähl mir weiter davon.»
«Beim Pferd», sagte Matilda, «da pocht es richtig langsam. Nur vierzigmal in einer Minute.»
Dieses Kind, sagte sich Fräulein Honig, scheint an allem interessiert zu sein. Wenn man mit ihm zusammen ist, dann kann man sich unmöglich langweilen. Wie ich das liebe!
Die beiden blieben noch eine Stunde oder länger in der Küche sitzen und unterhielten sich, und dann, so gegen sechs, sagte Matilda guten Abend und machte sich auf den Heimweg zu ihrem Elternhaus, das etwa acht Minuten entfernt lag.
Als sie vor ihrem Gartentor ankam, sah sie, daß ein großer schwarzer Mercedes davor parkte. Sie kümmerte sich nicht sonderlich darum. Vor dem Haus ihres Vaters standen oft die merkwürdigsten Autos. Als sie jedoch das Haus betrat, platzte sie in eine vollkommen chaotische Szene. Ihre Mutter und ihr Vater waren beide in der Halle und stopften wie die Wilden Kleider und alle möglichen Sachen in Koffer und Taschen.
«Was ist denn um Himmels willen hier los?» rief sie. «Was ist denn passiert, Vati?»
«Wir hauen ab», sagte Herr Wurmwald, ohne aufzuschauen. «In einer halben Stunde geht’s los, zum Flughafen, also fang lieber an zu packen. Dein Bruder ist oben, schon reisefertig. So setz dich doch in Bewegung, Mädchen! Mach los!»
«Wegfliegen?» schrie Matilda auf. «Wohin denn?»
«Spanien», sagte ihr Vater. «Hat ein besseres Klima als dieses lausige Land hier.»
«Spanien!» rief Matilda. «Ich will aber nicht nach Spanien! Ich bin gerne hier! Und ich liebe meine Schule!»
«Mach, was ich dir sage, und Schluß mit den Widerworten!» fuhr sie ihr Vater an. «Ich hab schon genug am Hals, da will ich mich nicht auch noch mit dir rumärgern müssen.»
«Aber Vati...» begann Matilda.
«Halt’s Maul», schrie der Vater, «in dreißig Minuten brechen wir auf. Ich will mein Flugzeug nicht verpassen!»
«Aber für wie lange denn, Vati?» rief Matilda. «Wann kommen wir denn zurück?»
«Überhaupt nicht», fauchte der Vater, «und jetzt zisch ab! Ich hab zu tun!»
Matilda drehte sich um und ging durch die offene Haustür wieder hinaus. Sobald sie auf der Straße war, fing sie an zu rennen. Sie sauste geradewegs zu Fräulein Honigs Haus zurück und erreichte es in weniger als vier Minuten. Sie flog den Gartenweg entlang, und dann sah sie plötzlich Fräulein Honig im Vordergarten, wie sie mitten in einem Rosenbeet stand und irgend etwas mit einer Heckenschere machte. Fräulein Honig hatte Matildas schnelle Schritte auf dem Kies knirschen hören, und während das Kind auf sie zustürzte, richtete sie sich auf, drehte sich um und trat aus dem Rosenbeet.
«Du meine Güte», sagte sie, «was ist denn um Himmels willen nur los?»
Matilda stand keuchend vor ihr, ganz außer Atem, das kleine Gesicht rot wie eine Pfingstrose.
«Sie gehen weg!» schrie sie. «Sie haben alle den Verstand verloren und stopfen ihre Koffer voll, und in einer halben Stunde brechen sie auf, nach Spanien!»
«Wer denn?» fragte Fräulein Honig ruhig.
«Mami und Vati und mein Bruder Michael, und sie sagen, ich muß mit ihnen kommen!»
«Du meinst in die Ferien?» fragte Fräulein Honig.
«Für immer!» schrie Matilda. «Vati sagt, wir kommen nie und nimmer zurück!»
Nach einer kurzen Pause bemerkte Fräulein Honig: «Ehrlich gesagt, das überrascht mich nicht.»
«Wollen Sie sagen, Sie hätten gewußt, daß sie weggehen?» schluchzte Matilda. «Warum haben Sie mir denn nichts davon gesagt?»
«Nein, Liebes», sagte Fräulein Honig, «ich habe nicht gewußt, daß sie weggehen. Aber die Nachricht verblüfft mich trotzdem nicht.»
«Wieso denn?» rief Matilda. «Sagen Sie mir doch, warum.» Sie war immer noch vollkommen außer Atem von der Rennerei und vor allem vor Schreck.
«Weil dein Vater», sagte Fräulein Honig, «mit einem Haufen Gauner im Bunde ist. Das weiß jeder hier im Ort. Ich vermute, daß er gestohlene Autos aus dem ganzen Land abgenommen hat. Er steckt bis über die Ohren drin.»
Matilda starrte sie mit offenem Mund an.
Fräulein Honig fuhr fort: «Die Leute haben deinem Vater gestohlene Autos in die Werkstatt gebracht, und er hat dort die Nummernschilder ausgewechselt und die Karosserie mit einer anderen Farbe gespritzt und so weiter. Und jetzt hat ihn wahrscheinlich jemand verpfiffen, und die Polizei sitzt ihm auf den Fersen, und da macht er das, was sie alle machen: er haut ab nach Spanien, wo sie ihn nicht erwischen können. Er wird sicher schon seit Jahren sein ganzes Geld dorthin geschafft haben, und jetzt kann er sich ins gemachte Nest setzen.»
Sie standen auf dem Rasen vor dem schönen roten Backsteinhaus mit seinen verwitterten alten roten Dachschindeln und den hohen Schornsteinen, und Fräulein Honig hatte immer noch die Gartenschere in der Hand.
Es war ein milder, goldener Abend, und irgendwo in der Nähe schlug eine Amsel.
«Ich will nicht mit denen weggehen!» rief Matilda plötzlich. «Ich will nicht weg mit ihnen.»
«Ich fürchte, du mußt», sagte Fräulein Honig.
«Ich möchte hier bei Ihnen wohnen», rief Matilda aus. «Ach bitte, erlauben Sie mir doch, bei Ihnen zu wohnen.»
«Ich wünschte wirklich, das ginge», entgegnete Fräulein Honig, «aber das ist leider nicht möglich. Du kannst deine Eltern nicht einfach so verlassen. Sie haben ein Recht darauf, dich mitzunehmen.»
«Aber wenn sie damit einverstanden sind?» rief Matilda aufgeregt. «Wenn sie vielleicht ja sagen, ich könnte bei Ihnen bleiben? Würden Sie mich dann nehmen?»
Fräulein Honig sagte leise: «Ach, das wäre himmlisch.»
«Also, ich glaube, daß sie einverstanden sind!» rief Matilda. «Ehrlich, das glaub ich! Sie kümmern sich in Wirklichkeit keinen Pfifferling um mich!»
«Nicht so schnell!» sagte Fräulein Honig.
«Aber wir müssen schnell machen!» rief Matilda. «Sie können jeden Augenblick losfahren! Kommen Sie schon!» rief sie und griff nach Fräulein Honigs Hand.
«Bitte kommen Sie mit mir mit und fragen Sie sie! Aber wir müssen uns beeilen! Wir müssen rennen!»
Im nächsten Augenblick rasten die beiden den Gartenweg entlang und dann auf die Straße hinaus, Matilda immer voraus, wobei sie Fräulein Honig am Handgelenk hinter sich herzerrte, und es war eine wilde und wunderbare Jagd über die Landstraße und durch den Ort bis zu dem Haus, in dem Matildas Eltern lebten. Der große schwarze Mercedes wartete immer noch davor, der Kofferraum und alle Türen standen jetzt sperrangelweit offen, und Herr und Frau Wurmwald und der Bruder wimmelten wie die Ameisen drumherum, als Matilda und Fräulein Honig angestürzt kamen, und stapelten Koffer hinein.
«Vati und Mami!» platzte Matilda heraus und rang keuchend nach Atem. «Ich will nicht mit euch gehen! Ich möchte hierbleiben und bei Fräulein Honig wohnen, und sie sagt, ich kann, wenn ihr mir die Erlaubnis gebt! Ach bitte, sagt ja! Los, Vati, sag ja! Sag ja, Mami!»
Der Vater drehte sich um und glotzte Fräulein Honig an. «Sie sind die Lehrerin, die mal hergekommen ist, was?» fragte er. Dann fuhr er fort, die Koffer in das Auto zu packen.