«Mami», sagte Matilda, «darf ich mit meinem Abendbrot ins Eßzimmer gehen, damit ich lesen kann?»
Der Vater warf ihr einen strengen Blick zu. «Kommt nicht in Frage!» schnauzte er sie an. «Beim Abendbrot versammelt sich die ganze Familie, und vorm letzten Bissen verläßt keiner den Tisch!»
«Aber wir sitzen ja gar nicht am Tisch», erwiderte Matilda, «das tun wir doch nie. Wir essen immer von den Knien und sehen fern.»
«Und was hast du dagegen? Würdest du mir das vielleicht einmal verraten?» fragte der Vater. Seine Stimme klang plötzlich sanft und gefährlich.
Matilda traute sich nicht, ihm zu antworten, deshalb hielt sie den Mund. Sie spürte aber, wie der Zorn in ihr kochte. Sie wußte, daß es nicht recht war, seine Eltern so zu hassen, aber es fiel ihr sehr schwer, es nicht zu tun. Ihre Lektüre hatte ihr Einblicke ins Leben vermittelt, die ihre Eltern nie gewonnen hatten. Wenn sie nur ein bißchen Dickens oder Kipling läsen, dann würden sie rasch verstehen, daß das Leben aus mehr besteht als aus Gaunertricks und Fernsehen.
Und noch etwas. Sie konnte es nicht ausstehen, wenn man ihr unaufhörlich einredete, sie sei dumm und dämlich, obgleich sie genau wußte, daß sie keins von beiden war. Die Wut in ihrem Bauch hörte nicht auf zu kochen, und als sie an diesem Abend glücklich im Bett lag, faßte sie einen Entschluß. Jedesmal wenn ihr Vater oder ihre Mutter gemein zu ihr waren, wollte sie es ihnen auf irgendeine Art und Weise heimzahlen. Ein kleiner Sieg, vielleicht sogar zwei mußten ihr helfen, den elterlichen Schwachsinn zu ertragen, ohne den Verstand zu verlieren. Ihr dürft nicht vergessen, sie war erst knapp fünf Jahre alt, und für eine so Kleine ist es nicht leicht, zu Pluspunkten gegen die allmächtigen Erwachsenen zu kommen. Sie war aber trotzdem entschlossen, den Versuch zu wagen. Nach dem, was an diesem Abend vorm Fernsehapparat geschehen war, stand ihr Vater zuoberst auf der Liste.
Am nächsten Morgen huschte Matilda, kurz bevor der Vater zu seiner widerwärtigen Gebrauchtwagenwerkstatt aufbrach, in die Garderobe und nahm sich den Hut, den er täglich zur Arbeit trug. Um ihn vom Haken zu angeln, mußte sie sich auf die Zehenspitzen stellen und einen Spazierstock zu Hilfe nehmen, und selbst so hätte sie es fast nicht geschafft. Der Hut war einer von diesen flachen weichen, die wie eine Schweinefleischpastete aussehen. Herr Wurmwald war sehr stolz darauf und hatte sich eine Eichelhäherfeder hinters Hutband gesteckt. Er fand, daß ihm der Hut ein verwegenes und kühnes Aussehen verlieh, besonders wenn er ihn sich zu seiner großkarierten Jacke und seiner grünen Krawatte schief auf den Kopf setzte.
Matilda hielt den Hut in der einen und eine dünne Tube Sekundenkleber in der anderen Hand und begann, den Kleber in einer feinen Wurst säuberlich und präzise innen aufs Schweißleder zu quetschen. Dann hängte sie den Hut mit Hilfe des Spazierstocks wieder vorsichtig auf den Haken. Sie hatte sich den Zeitpunkt dieser Operation sehr genau ausgerechnet, den Klebstoff also erst in dem Augenblick aufgetragen, in dem der Vater vom Frühstückstisch aufstand.
Als sich Herr Wurmwald den Hut aufsetzte, merkte er gar nichts. Aber als er in der Garage war, konnte er ihn nicht abnehmen. Sekundenkleber wirkt rasch und klebt Hautteile in Sekunden fest. Wenn man dann zu kräftig zerrt, reißt man sich die Haut ab. Herr Wurmwald wollte nicht gern skalpiert werden, und deshalb mußte er den Hut den ganzen Tag auf dem Kopf behalten, selbst als er Sägemehl ins Schmieröl mengte und mit seiner Bohrmaschine den Kilometerstand der Wagen frisierte. Um sich nicht lächerlich zu machen, zog er ein gleichgültiges Gesicht und hoffte, seine Angestellten glaubten, daß er den Hut aus Jux und mit voller Absicht den ganzen Tag lang auf dem Kopf behielte, so wie die Gangster in Filmen.
Als er am Abend nach Hause kam, konnte er den Hut immer noch nicht abnehmen. «Sei nicht albern», sagte seine Frau, «komm her. Ich setz ihn dir ab.»
Sie riß einmal kräftig an dem Hut. Herr Wurmwald jaulte so laut auf, daß die Fensterscheiben klirrten. «Aua, au, au, au!» heulte er. «Laß das! Laß los! Du reißt mir ja die halbe Haut von der Stirn!»
Matilda, die es sich in ihrem angestammten Sessel gemütlich gemacht hatte, beobachtete dieses Ereignis mit einer gewissen Anteilnahme über den Rand ihres Buches hinweg.
«Was ist denn los, Vati?» fragte sie. «Ist dir dein Schädel geschwollen oder was?»
Der Vater starrte die Tochter mit mörderischem Mißtrauen an, gab aber keine Antwort. Was hätte er auch sagen sollen? Frau Wurmwald bemerkte: «Das muß Schnellkleber sein. Kann gar nichts anderes sein. Das sollte dich lehren, mit diesem scheußlichen Zeugs vorsichtiger umzugehen. Wahrscheinlich hast du dir noch eine Feder an den Hut stecken wollen.»
«Ich hab das verdammte Zeug nicht angerührt!» brüllte Herr Wurmwald. Er drehte sich um und starrte abermals Matilda an, die seinen Blick mit großen unschuldigen braunen Augen erwiderte.
Frau Wurmwald sagte zu ihm: «Man sollte immer zuerst die Gebrauchsanweisung auf der Tube lesen, eh man anfängt, mit so gefährlichen Sachen herumzuwirtschaften. Man braucht sich nur an die Gebrauchsanweisungen zu halten.»
«Wovon schwafelst du denn, verflixt noch mal, du dumme Kuh?» schrie Herr Wurmwald und packte die Krempe seines Hutes, damit keiner mehr daran zerren konnte. «Hältst du mich für so blöde, daß ich mir dieses Ding mit Absicht auf den Kopf klebe?»
Matilda sagte: «Da unten an der Straße wohnt ein Junge, der hat ein bißchen Sekundenkleber an den Finger gekriegt, ohne es zu merken, und dann hat er den Finger in die Nase gesteckt.»
Herr Wurmwald fuhr zusammen. «Und was ist mit ihm passiert?» stotterte er.
«Der Finger ist in seiner Nase festgeklebt», antwortete Matilda, «und er hat eine Woche lang so herumlaufen müssen. Die Leute haben immer zu ihm gesagt: Bohr doch nicht in der Nase, aber er konnte nichts dran machen. Er hat schrecklich albern ausgesehen.»
«Geschieht ihm recht», sagte Frau Wurmwald, «warum hat er auch den Finger in die Nase gesteckt. Das ist eine häßliche Angewohnheit. Wenn alle Kinder Sekundenkleber an den Fingern hätten, würden sie bald damit aufhören.»
Matilda sagte: «Erwachsene tun das aber auch, Mami. Ich hab gestern in der Küche gesehen, wie du in der Nase gebohrt hast.»
«Das reicht jetzt», sagte Frau Wurmwald und lief rosa an.
Herr Wurmwald mußte seinen Hut während des Abendessens vorm Fernsehapparat aufbehalten. Er sah lächerlich aus, und er verhielt sich ziemlich still.
Als er hinaufging, um schlafen zu gehen, versuchte er abermals, das Ding loszuwerden, und seine Frau versuchte es ebenfalls, aber der Hut dachte gar nicht daran, sich auch nur zu rühren. «Wie soll ich mich denn duschen?» fragte Herr Wurmwald.