Er zog ein Stück Papier aus der Tasche und studierte es. «Hör zu, Junge», sagte er, indem er sich nur an den Sohn wandte und Matilda übersah, «da du ja eines Tages den Laden zusammen mit mir führen wirst, mußt du allmählich lernen, wie man sich am Ende jeden Tages den Verdienst ausrechnet. Hol dir mal einen Block und einen Bleistift, dann wollen wir mal sehen, wieviel Grips du schon hast.»
Der Sohn lief gehorsam aus dem Zimmer und kam mit den Schreibsachen zurück.
«Notier dir diese folgenden Zahlen», sagte der Vater, der sie von seinem Zettel ablas. «Wagen Nummer eins ist von mir für zweihundertachtundsiebzig Pfund gekauft und für eintausendvierhundertundfünfundzwanzig verkauft worden. Hast du das?»
Der zehnjährige Junge schrieb die beiden Summen langsam und sorgfältig auf.
«Wagen Nummer zwei», fuhr der Vater fort, «hat mich einhundertachtzehn Pfund gekostet und ist für siebenhundertundsechzig weggegangen. Hast du das?»
«Ja, Vati», antwortete der Sohn, «ich hab’s.»
«Wagen Nummer drei hat einhundertundelf Pfund gekostet und ist für neunhundertundneunundneunzig Pfund und fünfzig Pence verkauft worden.»
«Sag das noch mal», bat der Sohn, «für wieviel hast du ihn verkauft?»
«Neunhundertundneunundneunzig Pfund und fünfzig Pence», wiederholte der Vater, «das ist übrigens noch einer von meinen netten kleinen Tricks, mit denen ich die Kunden reinlege. Nie eine fette runde Summe verlangen. Immer grade drunter bleiben. Niemals eintausend Pfund aussprechen, immer nur sagen neunhundertundneunundneunzigfünfzig. Es klingt nach viel weniger, was aber nicht stimmt. Gerissen, was?»
«Toll», sagte der Sohn, «du bist klug, Vati.»
«Wagen Nummer vier hat sechsundachtzig Pfund gekostet – war ein wahres Wrack – und ist für sechshundertundneunundneunzig Pfund fünfzig verkauft worden.»
«Nicht so schnell», sagte der Sohn, während er sich die Zahlen aufschrieb. «So, jetzt hab ich’s.»
«Wagen Nummer fünf hat sechshundertundsiebenunddreißig Pfund gekostet und ist für sechzehnhundertundneunundvierzigfünfzig verkauft worden. Hast du jetzt all diese Zahlen aufgeschrieben, Sohn?»
«Ja, Vati», erwiderte der Sohn, der sich über seinen Block beugte und bedächtig schrieb.
«Sehr gut», fuhr der Vater fort, «jetzt rechne dir den Profit aus, den ich bei jedem der fünf Wagen gemacht habe, und addier dann die Gesamtsumme. Dann kannst du mir nämlich sagen, wieviel Geld dein ziemlich kluger Vater heute insgesamt zusammengescharrt hat.»
«Das ist aber eine ganze Masse», bemerkte der Junge.
«Natürlich ist das eine ganze Masse», antwortete der Vater, «aber wenn du so groß im Geschäft bist wie ich, dann mußt du auch flink in Arithmetik sein. Ich hab praktisch einen Computer in meinem Kopf. Ich hab nicht mal zehn Minuten gebraucht, um das alles auszurechnen.»
«Willst du damit sagen, daß du es im Kopf ausgerechnet hast, Vati?» fragte der Sohn und riß die Augen auf.
«Na, nicht ganz», sagte der Vater, «das schafft keiner. Aber lange hab ich nicht gebraucht. Wenn du fertig bist, dann sag mir, was ich deiner Meinung nach heute verdient habe. Ich hab die Endsumme hier aufgeschrieben, und ich werd dir sagen, ob du richtig gerechnet hast.»
Matilda sagte ruhig: «Vati, du hast genau insgesamt viertausenddreihundertunddrei Pfund und fünfzig Pence verdient.»
«Misch dich nicht ein», sagte der Vater, «dein Bruder und ich sind mit der Hochfinanz beschäftigt.»
«Aber Vati...»
«Halt die Klappe», sagte der Vater, «hör auf, rumzuraten und dich aufzuspielen.»
«Schau doch auf deinen Zettel, Vati», sagte Matilda sanft, «wenn du richtig gerechnet hast, müßte da stehen: viertausenddreihundertunddrei Pfund und fünfzig Pence. Hast du das auch rausgekriegt, Vati?»
Der Vater warf einen Blick auf den Zettel in seiner Hand. Er schien zu erstarren. Er wurde ganz still. Tiefes Schweigen herrschte. Dann sagte er: «Wiederhol das noch einmal.»
«Viertausenddreihundertunddrei Pfund fünfzig», sagte Matilda.
Abermals ein tiefes Schweigen. Das Gesicht des Vaters begann dunkelrot anzulaufen.
«Ich bin sicher, daß es stimmt», sagte Matilda.
«Du – du kleine Schwindlerin!» schrie der Vater plötzlich und zeigte mit dem Finger auf sie. «Du hast auf meinen Zettel geguckt! Du hast das abgelesen, was ich mir hier aufgeschrieben habe!»
«Vati, ich bin in der anderen Hälfte des Zimmers», sagte Matilda, «wie hätte ich das denn sehen können?»
«Red dich jetzt nicht raus!» rief der Vater. «Natürlich hast du geguckt. Du mußt geguckt haben. Kein Mensch auf der Welt könnte das einfach so ausrechnen, besonders kein Mädchen. Du bist eine kleine Betrügerin, meine Dame, das will ich dir mal sagen! Ja, das kannst du – lügen und betrügen!»
In diesem Augenblick trat die Mutter ein, die ein großes Tablett mit den vier Abendessen trug. Diesmal waren es Fisch und Kartoffelchips, die Frau Wurmwald auf dem Heimweg vom Bingo im Fisch- und Chip-Laden gekauft hatte. Die Bingonachmittage schienen sie körperlich und seelisch so zu erschöpfen, daß sie keine Kraft mehr hatte, ein Abendessen zu kochen. Wenn es also keine TV-Mahlzeiten gab, dann Fisch und Kartoffelchips.
«Warum hast du denn so ein rotes Gesicht, Harry?» fragte sie, während sie das Tablett auf dem Couchtisch absetzte.
«Deine Tochter lügt und betrügt», sagte der Vater, nahm sich seinen Teller mit Fisch und stellte ihn auf die Knie. «Schalte den Apparat an und hör auf mit dem Geschwatze.»
Nach Matildas Meinung gab es gar keinen Zweifel daran, daß ihr Vater für seine jüngste Gemeinheit streng bestraft werden mußte, und während sie dasaß und ihren gräßlichen Fisch mit den Kartoffelchips futterte und dabei Augen und Ohren vorm Fernsehen verschloß, begann ihr Verstand, die verschiedenen Möglichkeiten durchzuspielen. Als es dann für sie Zeit war, ins Bett zu gehen, war sie zu einem Entschluß gekommen.
Am nächsten Morgen stand sie frühzeitig auf, ging ins Badezimmer und verschloß die Tür. Wie wir ja schon wissen, waren Frau Wurmwalds Haare leuchtend blond gefärbt, fast genauso glitzernd und silbrig wie das Kostüm einer Seiltänzerin im Zirkus. Das richtige Haarfärben fand zweimal im Jahr beim Friseur statt, aber Frau Wurmwald pflegte in der Zwischenzeit ungefähr alle vier Wochen einmal die Farbe aufzufrischen, indem sie sich die Haare im Waschbecken mit etwas spülte, das ‹Goldblonde Haarfarbe, extra stark› hieß. Diese Prozedur diente dazu, die häßlichen nachwachsenden braunen Haaransätze zu bleichen. Die Flasche mit der goldblonden Haarfarbe, extra stark, wurde im Badezimmer aufbewahrt, und auf dem Etikett stand unterhalb der Bezeichnung: Achtung! Enthält Wasserstoffsuperoxyd. Von Kindern fernhalten. Das hatte Matilda schon oft und fasziniert gelesen.
Matildas Vater besaß einen kräftigen Haarwuchs und scheitelte sich die schwarzen Haare, auf die er sehr stolz war, genau in der Mitte. «Gute feste Haare», sagte er gern, «das bedeutet, daß darunter ein guter fester Verstand steckt.»
«Wie bei Shakespeare», hatte Matilda einmal darauf erwidert.