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Im Grunde habe ich zu jedem Mensch und jedem Ereignis geteilte Meinungen, die sich oft ausschließen. Diese Fähigkeit hat mein sechsjähriger Sohn, der sich schon jetzt nicht mehr festlegen kann, wahrscheinlich von mir geerbt. Neulich hat er deswegen beinahe geweint.

»Was soll ich tun, Papa?«, fragte er unter Tränen. »Es ist so, als würden zwei verschiedene Menschen in mir stecken. Der eine sagt, geh sofort Computer spielen, geh sofort Computer spielen. Aber der andere sagt, geh Fernsehen kucken, geh Fernsehen kucken!«

Von einer solchen Problematik fasziniert, versuchte ich meinem Sohn zu helfen.

»Das kriegen wir schon hin, mein Junge«, sagte ich. »Wir erledigen das - eins nach dem anderen.«

»Ist da nicht noch einer in dir, der sagt, geh Hausaufgaben machen?«, erkundigte sich meine Frau.

Sebastian blickte tief in sich hinein und fand diesen dritten tatsächlich, der aber ganz klein, leise und unbedeutend war.

Zurück zu Andrejs Vater: Während seines letzten Besuchs bei seinem Sohn ging er auf die Schönhauser Allee, um einzukaufen und kam mit einer neuen Reggae-Jeansjacke wieder, die eigentlich nur Minderjährige tragen. Uns erzählte er, wie es zu diesem Kauf gekommen war. Er war zufällig an dem coolen Geschäft Fuck Mode, mit orangefarbenen Guantanamo-T-Shirts in den Schaufenstern vorbeigegangen. Dort hat ihn plötzlich der Jugendwahn erfasst.

»Wie oft habe ich von solchen Klamotten geträumt, damals in den Siebzigern«, erzählte er. »Besonders hatte es mir eine Jacke mit Jimi Hendrix auf dem Rücken angetan. So eine hatte unser Schlagzeuger von seiner Tante aus England geschenkt bekommen. Ich wollte ihm die Jacke damals abkaufen, er verlangte aber fünfhundert Rubel dafür, eine Unsumme, so viel hatte ich nicht. Nun stand ich plötzlich vor diesem Laden und sah sie, die Jacke meiner Träume - dort im Schaufenster. Sie war nicht einmal teuer. Da dachte ich, was soll’s, ich habe jetzt Geld, ich habe jetzt Mumm, und ich bin noch immer ein großer Fan von Jimi Hendrix. Ich kaufe sie mir einfach. Bin rein in den Laden und habe die Jacke sofort angezogen. Die gepiercten Verkäufer haben mich komisch angesehen, und eine Frau auf der Straße hat mich angelächelt. Sie dachten wahrscheinlich, dieser alte Sack, jetzt ist er fällig geworden. Doch mir ist egal, was sie denken. Ich habe in dieser Jacke das Gefühl, endlich ich selbst zu sein! Das hat mir in den letzten Jahren so gefehlt. Ich wurde so oft von meinen Mitmenschen missverstanden, nur weil ich in falschen Klamotten steckte. Jetzt aber kann ich mein wahres Gesicht zeigen. Ja, Jimi Hendrix war ein Gott, seine Musik zeigte mir den Weg und erwärmte mein Herz«, beendete der Vater seine Erzählung.

Andrej und ich betrachteten seinen Kauf mit Erstaunen.

»Eins verstehe ich nicht«, sagte Andrej schließlich. »Wenn du ein so großer Fan von Jimi Hendrix bist, warum kaufst du dir dann eine Jacke mit Bob Marley auf dem Rücken?«

Für seinen Vater war diese Bemerkung ein harter Schlag, ein K.O. Er zog die Jacke aus, setzte die Brille auf und studierte aufmerksam das Porträt. Kein Zweifel, ein Fehlkauf.

»Ein Glück, dass er nicht Che Guevara erwischt hat«, meinte Andrej trocken.

Plüschtiere aus Schlobin

Bei uns im Korridor zwischen dem Schuhschrank und dem Garderobenständer steht ein rosaroter Panther, der in der Dunkelheit leuchtet: ein weißrussisches Plüschtier, das wir von unserem Nachbarn Sergej geschenkt bekommen haben und das regelmäßig Gäste erschreckt, wenn sie sich zum Beispiel die Schnürsenkel binden und der Panther ihnen plötzlich in den Rücken fällt. Viele fürchten sich vor ihm. Der weißrussische Panther sieht nämlich gar nicht niedlich aus, sondern wie ein geschlachtetes Raubtier. Genauer gesagt: wie ein echter Panther aus Afrika, der sich nach Weißrussland abgesetzt und sich in den dortigen Wäldern und Sümpfen versteckt hat, dann aber von der weißrussischen Polizei gefangen genommen und gefoltert wurde. Er verriet aber seine Identität nicht und starb schließlich einen Heldentod durch mehrfaches Erschießen und Erhängen. Anschließend stopften die Weißrussen den Kadaver aus und verkauften ihn als Plüschtier an die Touristen.

Dieser Panther ist nicht das einzige weißrussische Plüschtier in unserem Haus. Meine Nachbarn aus der Russen-WG haben noch ein Kamel und ein Eichhörnchen beide groß wie Kühlschränke, in der Wohnung stehen. Immer wenn Sergej seine weißrussische Heimat, die Stadt Gomel besucht, packt ihm seine Mutter ein Plüschtier ein.

»Nein, Mama«, wehrt sich Sergej jedes Mal vergeblich. »Ich kann diesen Löwen bzw. das Schweinchen oder Känguru unmöglich nach Berlin mitnehmen! Ein erwachsener Mann mit einem Riesenplüschtier im Arm - willst du, dass halb Europa über mich lacht?«

»Aber es ist so niedlich, so kuschelig«, lässt die Mutter nicht locker. »Du kannst das Tierchen deiner Freundin schenken. Wenn du es ins Bett legst, wird sie begeistert sein!«

»Wenn ich dieses Tierchen mit ins Bett nehme, wird dort kein Platz mehr für meine Freundin sein. Dann werde ich mein Leben lang nur mit diesem Tierchen schlafen müssen!«, regt sich Sergej auf.

»Musst du nicht«, beruhigt ihn die Mutter. »Ich schenke dir nächstes Jahr ein neues, ein anderes Tierchen. Willst du einen Eisbären?«

Natürlich sagt Sergej am Ende ja und nimmt das Tierchen mit, weil es sinnlos ist, mit seiner Mutter zu streiten. Zu Hause in Berlin versucht er, das Tier zu entsorgen, indem er es zum Beispiel an uns oder andere Bekannte weiterverschenkte. Das klappt nicht immer. Ost ist Ost, und West ist West, sie werden einander nie verstehen. Obwohl die Plüschtierbesessenheit der Weißrussen eigentlich leicht nachzuvollziehen ist. Sie erklärt sich aus der kapitalistischen Entwicklung der weißrussischen Stadt Schlobin in der Nähe von Gomel und dem Widerstand, den die Bewohner dieser Entwicklung entgegenbrachten. In Schlobin steht die berühmte Fabrik namens Schlobinskaja Fabrika für weiche Spielzeugproduktion. In der sozialistischen Planwirtschaft wurde sie dazu auserkoren, die ganze Sowjetunion - ein Sechstel der gesamten Erdoberfläche, wie uns in der in der Schule erzählt wurde - mit weichem Spielzeug zu beliefern. Die Bevölkerung von Schlobin war vollzählig in die Produktion des weichen Spielzeuges involviert.

Nach der Auflösung der Sowjetunion war von einem Sechstel der Erdoberfläche nur wenig übrig geblieben. Die Fabrik drosselte die Produktion von weichem Spielzeug soweit es ging, trotzdem produzierte sie immer noch viel mehr als sie verkaufte. Denn die frischgebackenen unabhängigen Republiken wollten ihre Unabhängigkeit weiter ausbauen und kauften ihr Spielzeug fortan nicht mehr beim Nachbarn, sondern in China. Obwohl jeder wusste, dass die Chinesen ihre Plüschtiere aus giftigen Materialien herstellen, die sich auf die zukünftige Potenz der Kinder negativ auswirken konnte. Man erzählte sich, dass die Chinesen durch dieses Spielzeug die Geburtenrate im eigenen Land bereits deutlich gesenkt hatten.

In den anderen weißrussischen Städten, die sich auf die Produktion von Dünger oder Traktoren spezialisiert hatten, in den Kolchosen, die zu Agrarfarmen umgewandelt waren, kamen und kommen die Bewohner noch irgendwie über die Runden. Aber die Arbeiter von Schlobin sahen schwarz. Der Stadt drohten die totale Arbeitslosigkeit, Elend und Not. Der Betrieb musste sich an die neue Zeit anpassen - nur wie? Die neu eingerichtete Produktionslinie für »sprechende Sexplüschtiere« konnte allein keine dauerhafte Lösung bringen. Die Fabrikleitung beriet sich mit Politikern, dann schlug sie ihren Arbeitern vor, zwei Drittel des Gehaltes künftig statt in Geld in Fabrikprodukten, das hieß in Plüschtieren, auszubezahlen. Nur so könnte die Fabrik die schweren Zeiten überleben und weitere Entlassungen vermeiden.