Die Arbeiter atmeten tief ein und stimmten dem Angebot schließlich zu.
Damals, vor zehn Jahren, konnte niemand ahnen, welche Auswirkungen diese Entscheidung auf das Stadtbild und die Lebensgewohnheiten der Einwohner haben würde. Inzwischen hat sich die halbe Stadt in einen Spielzeugmarkt verwandelt. Man kann in Schlobin um 2.00 Uhr morgens noch eine Giraffe kaufen. Viele Züge, die durch Weißrussland fahren, machen in Schlobin Halt. Die Passagiere, die zum ersten Mal die Stadt besuchen, erstarren vor Schreck, wenn ihnen plötzlich stark behaarte Löwen und orangefarben gefederte Moorhühner vom Bahnsteig entgegenspringen. Bären und Mustangs laufen über die Gleise und drücken ihre Fratzen an die Fensterscheiben. Die Arbeiter von Schlobin lassen sich nur in großkalibrigen Tieren von der Fabrik entlohnen, weil sie teurer sind und sich besser verkaufen lassen. Deswegen sieht man auf dem Bahnsteig keine Menschen, sondern nur große Plüschtiere, die auf Menschenbeinen von einem Zug zum anderen laufen. Als Verkäufer sind die Arbeiter der Spielzeugfabrik hartnäckig und lassen sich nicht mit einem einfachen Kopfschütteln oder dummen Sprüchen abschütteln. Sie sind rhetorisch gewieft, überzeugend und können praktisch jedem Rentner ein Plüschtier andrehen.
Den erwarteten Wohlstand, diesen Hauptbestandteil des Kapitalismus, vermisst man an vielen Orten in Weißrussland. Er hat sich äußerst wählerisch benommen und ist nicht in jedes Haus eingezogen. Es gibt noch viele Familien, die kein Auto besitzen, sich keinen Urlaub in der Türkei leisten können und nur einen Fernsehapparat haben. Dafür gibt es in Schlobin und Umgebung niemanden, der kein Riesenplüschtier besitzt. Es werden welche nach Russland verkauft, manche sogar privat exportiert. Eines davon landete bei uns im Korridor. Er schreckt die Gäste ab und leuchtet in der Dunkelheit, mein rosaroter Freund, der verlorene Sohn des Ostens, unter komplizierten Umständen gezeugt, aus Solidarität geboren.
Der Ernst des Lebens und das ewige Eis
In meinem Haus in Berlin lebt eine leichtsinnige Gesellschaft. Abgesehen von meinen schwermütigen russischen Freunden haben alle hier Unterhaltungsberufe. Die Mehrheit bilden freischaffende Internetdesigner, außerdem haben wir einen Sozialarbeiter, der minderjährigen Straftätern das Tischlern beibringt, einen Theaterpädagogen, eine Literaturwissenschaftlerin, einen Bäcker, einen Weinhändler und einen abstrakten Maler mit roten Haaren, der mit einer abstrakten Sängerin aus Spanien liiert ist. Manchmal singen die beiden gemeinsam Opernarien und spanische Volkslieder auf dem Balkon. Eigentlich sind wir ein gut eingespieltes Team, die perfekte Besetzung für jeden Kindergeburtstag. Es fehlen nur noch ein Zauberer, ein paar Akrobaten, ein Kaninchenbändiger, und ein Schlangenbeschwörer wäre bei uns auch nicht fehl am Platz.
Diese Nachbarschaft passt perfekt zu der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, die den Alltag als eine Reihe von Attraktionen konzipiert, als endlose Kinderparty. In meinem ehemaligen sozialistischen Wohnhaus in Moskau hatten die meisten Nachbarn gewichtigere Berufe. Sie waren Lehrer, Hubschrauberpiloten, Lkw-Fahrer und Offiziere. Die Sowjetunion war auf solche ernste Berufsgruppen in besonderem Maße angewiesen. Man musste im Sozialismus nämlich ständig irgendetwas auswendig lernen, große Sachen durch die Gegend schleppen und umständliche Uniformen tragen. Mein Vater arbeitete in einem Betrieb der Binnenschifffahrt, der ausklappbare Brücken für kleine Flüsse produzierte. Meine Mutter unterrichtete in einer technischen Fachschule die sowjetische Jugend in Festigkeitslehre. Inzwischen ist unser ehemaliges Haus längst planiert und musste einer sogenannten Gesundheitsfarm, einer Wellness-Oase, weichen.
Die natürliche Schwierigkeit des Seins wurde einem in der Sowjetunion durch das Fernsehprogramm deutlich vermittelt. Man konnte stundenlang durch alle vier Kanäle zappen: Den Stahlöfen folgten die Traktoren, danach kamen die Panzer und dann die Raketen. Es ging immer um Arbeit, nie um Erholung. Selbst am frühen Sonntag wurde gleich nach der Morgengymnastik Die Stunde des Landwirts ausgestrahlt, danach die militante Sendung Diene der Sowjetunion, im Anschluss daran das Fernsehmagazin Gesundheit und Sport, weiter ging es mit dem Ballett Schwanensee, das bildhaft den Ernst des Schwanenlebens und -leidens schilderte. Wenn im Politbüro jemand gestorben war, wurden überhaupt alle aktuellen Sendungen zu Gunsten von Schwanensee aus dem Programm gekippt. Die Schwäne kamen dann in eine Endlosschleife.
Der Kapitalismus dagegen unterhält unermüdlich. Die gute Laune der Profiunterhalter tropft durch alle Fernsehprogramme. Besonders viel Frohsinn bringt die Werbung ins Wohnzimmer. Alle Menschen in der Werbung tun so, als hätten sie eine Klatsche. Sie freuen sich wie bekloppt über jede Kleinigkeit. Eine Packung Waschpulver kann sie zu den glücklichsten Menschen der Welt machen, und wegen eines Lutschers drehen sie völlig durch. Nur, wer will das sehen, wie erwachsene Menschen einander den Mund mit Pralinen vollstopfen, als hätten sie nie eine Kindheit gehabt?
Statt vor der Glotze verbringe ich lieber ein paar Stunden auf dem Balkon mit meinen russischen Nachbarn. Wir erinnern uns gerne an die besonders peinlichen Momente unserer Vergangenheit, an die missglückten Beziehungen, an die dümmsten Situationen, an die miesesten Jobs, die wir hatten. Nichts ist lustiger als der Ernst des Lebens.
Mein schlimmster Job war Prospektverteiler in Berlin. Unser damaliger Chef warnte uns täglich davor, auch nur einen Prospekt wegzuschmeißen, denn solche Vergehen würden über kurz oder lang immer ans Licht kommen, behauptete er. Die Prospekte waren an der Seite unterschiedlich markiert, damit man leicht die Personalien ihres Verteilers ermitteln konnte. Trotz dieser Warnungen dachte ich nicht eine Sekunde daran, das überflüssige Werbematerial tatsächlich zu verteilen. Ich hatte mich gleich am ersten Arbeitstag auf die aus meiner Sicht einzig mögliche Art des Umgangs mit Werbeprospekten festgelegt: ihre totale Vernichtung. Man muss dazu sagen, dass ich nicht aus Faulheit handelte. Die Prospekte zu vernichten war viel schwieriger, als sie zu verteilen. Ich wollte die Menschheit vor den Prospekten retten.
Mit der Zeit entwickelte sich mein Prospektvernichtungsprogramm zu einer fixen Idee. Ich habe alles Mögliche versucht, um das Werbematerial loszuwerden. Ich zündete die Prospekte in einer Tonne an - sie brannten nicht. Außerdem kippten jugendliche Straftäter die Tonne um, meine Prospekte flatterten durch die Luft und verteilten sich von allein über die halbe Stadt. Ungefähr zwanzig Kilo vergrub ich nachts auf einem Kindergartengelände hinter dem Haus, in dem ich damals wohnte. Sie wurden von neugierigen Hunden ausgegraben und flatterten wenig später ebenfalls überall im Bezirk herum. Ich habe versucht, sie mit einem Gewicht in einem See zu versenken: Das Gewicht ging unter, die Prospekte schwammen auf der Oberfläche. Am Ende hatte ich Angst einzuschlafen und hielt mich mit Alkohol wach. Denn kaum schloss ich die Augen, sah ich mich unter Tonnen von Werbeprospekten begraben.
Mein Nachbar Sergej arbeitete damals eine Zeit lang bei Bremen in einem Betrieb, der Verpackungsmaschinen für Hühnereier produzierte. Die großen Eierfarmen schickten die Verpackungslinien in der Regel nach zwei bis drei Jahren zu diesem Betrieb zurück. Dort wurden sie gesäubert, repariert und preiswert als Secondhandware an Kleinunternehmer weiterverkauft. Sergej gehörte der Russenbrigade an, die den dreckigsten Job im ganzen Betrieb hatte: Sie mussten die festgeklebte alte Eierpampe aus den gebrauchten Verpackungslinien entfernen. Für fünf Mark die Stunde. Nachts träumte er von Menschen, die ununterbrochen große braune Hühnereier legten.