Während wir auf dem Balkon saßen, sendete mein kleines Fernsehgerät in der Küche Werbung ohne Ton gezielt in unsere Richtung. Immer wenn wir hinschauten, war es die gleiche Werbung: Ein junger Mann betrat eine Wohnung mit einem Karton unterm Arm. Der Mann hatte hellblaue Augen und war sehr muskulös. Er lächelte so hintergründig, als hätte er gerade jemanden auf der Strasse vermöbelt und ihm den Karton mit Diamanten weggenommen. Der Muskelmann gehörte zu jener Sorte, die nie Gewissensbisse haben, nie unsicher sind, bei dem was sie tun. Diese Männer gehen mit geradem Rücken durch die Welt, immer einem klaren Ziel entgegen. Sie werden nie zögern, ganz egal, ob ein hungriger Wolf, ein gefährlicher Krieger oder ein durchgedrehter Elefant ihnen über den Weg läuft. Der Mann mit den hellblauen Augen würde in einer solchen Situation ohne nachzudenken, dem Wolf im Laufen das Fell abziehen, dem Krieger seinen Speer und Bogen abkaufen, und dem Elefanten aus Spaß den Rüssel verknoten.
In der Werbung packte dieser Supermann den Karton aus, während seine Freunde vor Begeisterung brüllten, ihm zitternd ihre Hände und Füße entgegenstreckten und sehnsüchtig auf seine Beute schielten. Man sah ihnen an, dass sie für den Karton Vater und Mutter verraten würden. Was wird wohl darin sein?, rätselten wir. Andrej tippte auf Pralinen oder Kartoffelchips. Ich wollte mich nicht gleich festlegen. Vielleicht wird der Supermann diesmal etwas ganz Ausgefallenes herausholen, etwas, das alle Fernsehzuschauer ohne Ausnahme vom Hocker reißt. Was könnte das sein? Theaterkarten? Kondome? Der komplette Brockhaus vielleicht? Ich machte die Augen zu und stellte mir genüsslich vor, wie der Mann mit den hellblauen Augen statt Joghurt oder Pralinen das superdicke Lehrbuch meiner Mutter über Festigkeitslehre auspackte und es mit schrägem Lächeln in die Kamera hielt. Alle um ihn herum würden aufspringen, sie würden versuchen, einander wie im Rausch das Buch aus der Hand zu reißen. Und eine junge Frau, die es ergattert hatte, würde stöhnend auf den Teppich fallen und allen anderen laut aus dem Buch vorlesen.
In Wirklichkeit konnte es sich angesichts des ewigen Kindergeburtstags unserer bunten Konsumgesellschaft unmöglich um ein ernstes Buch handeln. Alle Bücher des Westens sind Kinderbücher, alle Filme müsste man hier mit einer Altersbegrenzung »bis 18« vermerken. Erwachsene Menschen lesen hier ein Leben lang Harry Potter und schauen sich Komikverfilmungen an. Ich habe hier noch nirgendwo ein Buch über Festigkeitslehre gesehen. Den kompletten Brockhaus sah ich nur ein Mal, auf dem Land, als ich meinen deutschen Freund Frank in seinem Elternhaus bei Homburg in Hessen besuchte.
Ich erinnere mich noch gut an diese Reise, denn sie war für mich ein ziemlicher Kulturschock. Die Eltern von Frank arbeiteten beide in der Stadtverwaltung und hatten als Beamte eine gehobene Stellung im Ort. Im Gästezimmer hatten sie eine große braune Schrankwand voller Bücher, darunter mindestens dreißig Bände Brockhaus, wenn nicht mehr. Ich bemühte mich zehn Minuten lang, aus dieser Mauer des Wissens einen Band herauszubrechen. Es gelang mir nicht, die Bände waren wie zusammengeschweißt. Zornig drückte ich mit etwas mehr Kraft gegen die Buchwand, als plötzlich ein Wunder geschah: Der ganze Brockhaus erwies sich als Attrappe. Sie öffnete sich wie eine Geheimtür, und wie auf einem Tablett glitt aus dem Inneren der Schrankwand ein Fernsehgerät hervor. Die Eltern von Frank lachten über meinen Schreck, mir aber brannten die Ohren, als hätte ich diese sympathischen Menschen beim Klauen erwischt. Sie kochten Kaffee und luden uns, als wäre nichts geschehen, zu Tisch und servierten Kuchen und Eis.
Auch der Mann im Fernsehen verteilte Eis aus dem Karton - ein blödes Eis mit Kaugummigeschmack, das selbst meine Kinder eklig finden, obwohl sie sonst so gut wie alles mögen, was süß und fettig ist. Die Erwachsenen in der Glotze sprangen vor Begeisterung an die Decke. Überschwänglich bewarfen sie einander mit Eis, steckten es sich sofort hinter die Backe und erstarrten auf der Stelle vor Freude.
»Das war mein schlimmster Job«, meinte Sergej und zeigte auf den Bildschirm.
»Warst du etwa beim Fernsehen?«, fragten wir ungläubig.
Nein, aber er habe zwei Monate in einer Eisfabrik in Russland gearbeitet. Seitdem mag er kein Eis mehr. Die Fabrikproduktion war auf drei Eissorten spezialisiert: das Familien-Eis - ein halbes Kilo Brikett ohne Schnickschnack -, dann das Einhörnchen-Eis am Stiel mit Schokolade und Nüssen überzogen, und schließlich das Polarlicht in der Waffel, schneeweiß und sehr süß. Sergejs Aufgabe war es, die Stiele in die fertigen Einhörnchen-Briketts zu stecken.
Die ersten zwei Tage gingen noch. Er und sein Partner schafften es, in acht Stunden eine Palette Einhörnchen-Eis aufzuessen. Die dicken Tanten, die bei der Herstellung arbeiteten, aßen kein Eis mehr. Sie tranken die ganze Zeit die halbfertige Milchmischung und waren damit beschäftigt, die wichtigsten Komponenten der Eisherstellung aus dem Betrieb Richtung Zuhause zu entfernen. Es ging um Zucker, Milch, Schokolade und Nüsse, die ganz besonders wertvoll waren. Diese Produkte trugen sie am ganzen Körper aus dem Betrieb: auf dem Rücken, im Büstenhalter, unter dem Rock. Wenn sie erwischt wurden, schüttete man die sichergestellten Produkte wieder zurück in die Milchmischung.
Seit dieser Zeit kann Sergej kein Eis mehr sehen. Nicht einmal in der Werbung. Abgesehen davon ist es aber doch ein Kinderprodukt. Wahrscheinlich mischen sie im Kapitalismus dem Eis irgendetwas bei, damit die Menschen bis ins hohe Alter Gefallen daran finden und es bis zu ihrem Tod begeistert essen.
Der Russe lacht nicht
Wenn drei Russen an einem Tisch zusammenkommen, fangen sie in der Regel schon nach fünf Minuten an, einander Witze zu erzählen. Am liebsten politische mit einem langen Bart, die sie noch aus dem Kindergarten kennen. Man glaubt nicht, wie viel alter Witz in jedem Russen steckt. Sie können den ganzen Tag erzählen, doch über ihre eigenen Witze lachen sie nie. Dieses merkwürdige Verhalten hat seine Geschichte. Anekdoten hatten in Russland verschiedene Funktionen, man konnte mit ihnen angeben, sich politisch in einer Gruppe positionieren, Freunde gewinnen und Feinde erkennen. Sie mussten dabei nicht einmal lustig sein.
In meiner Kindheit, vor fünfundzwanzig Jahren, blühte in Russland der politische Witz. Dafür gab es zwei Gründe. Zum einen war der damalige Generalsekretär Leonid Breschnew wirklich witzig. Er hatte einen Sprachfehler, konnte kaum noch gerade stehen, verlieh sich selbst jedes Jahr neue Orden und Medaillen und wurde von seinen Parteigenossen stets »unser verehrter Leonid Iljitsch« genannt. Man musste sich keine Witze über Breschnew ausdenken. Ihn einfach bei einem Staatsbesuch zu beobachten, reichte schon für eine Flut von Volkshumor. Breschnew hatte es einfach drauf!
Der zweite Grund für die Popularität des politischen Witzes lag darin, dass man trotz der sozialistischen Diktatur nicht mehr Gefahr lief, wegen eines Witzes im Gefängnis zu landen wie noch unter Breschnews Vorgängern. Das Regime wurde in den Achtzigerjahren dem Volkshumor gegenüber nachlässig. Und der politische Witz wurde zum Ausdruck eines passiven Kampfes gegen den Totalitarismus. Das Imperium, das sich selbst als ewig und unantastbar begriff, wurde mit diesen Witzen vom Sockel der Geschichte gerissen und verspottet.
Mit dem Alter entdeckte unser Leonid Iljitsch sein Interesse für Literatur. Er ließ unter seinem Namen einen Haufen Biographisches erscheinen, alles Bücher, die seine Heldentaten zur Zeit des Zweiten Weltkrieges und seine Leistungen beim Wiederaufbau des Landes maßlos übertrieben. Wir Schüler mussten diese Bücher im Literaturunterricht studieren und Aufsätze über sie schreiben. In den Krieg trat Breschnew als Unteroffizier, was aber in seinen Büchern nicht auffiel. Die Werke dienten als unerschöpfliches Nachschublager für Breschnew-Witze: