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Wir schreiben das Jahr 1945. Der Generalissimus Stalin ruft bei Marschall Schukow an:

»Haben Sie schon ein Plan für die Eroberung Berlins?«

»Jawohl, Genosse Stalin!«

»Und haben Sie ihn schon mit dem Unteroffizier Breschnew abgesprochen?«

Breschnew ernannte sich selbst später ebenfalls zum Marschall, im Volksmund hieß es:

»Wofür hat Breschnew den Marschalltitel bekommen? Für die Eroberung des Kreml.«

Die wirkliche Politik hat damals niemanden groß interessiert. Während des Literaturunterrichts hatten viele von uns unter der Bank französische Abenteuerromane von Maurice Druon auf den Knien liegen. Diese Liebesintrigen aus dem Leben der königlichen Familie waren uns näher als die Politschinken: »Oh Gott«, stöhnte die Königin. »Ich bin schwanger und weiß nicht von wem!« In diesen Romanen spielte sich das wahre Leben ab, in Breschnews Werken wurde dagegen nie jemand schwanger. Man las also Liebesromane im Unterricht und erzählte in der Pause Witze über den Generalsekretär:

Breschnew gibt eine Pressekonferenz.

»Hat noch jemand Fragen?«

Alle schweigen.

»Keine Fragen?«, wundert sich Breschnew. »Das kann nicht sein, Genossen, ich habe hier noch zwei Antworten vor mir liegen.«

Mit der Perestroika kam alles in Bewegung. Plötzlich wurde die Politik spannend, skurril, hoffnungsvoll und war überhaupt nicht mehr komisch. Alle starrten wie gebannt auf den Bildschirm, die Debatten im Parlament wurden ungeschnitten den ganzen Tag lang ausgestrahlt. Die Politik wurde schwanger wie die Königin im französischen Liebesroman, und alle warteten ungeduldig auf das Kind: ein Jahr, zwei Jahre, dann nicht mehr. Es kam nichts. Die Debatten im Parlament brachten nur Enttäuschung, und der politische Witz tauchte auch nicht wieder auf. Es gab wenig zu lachen im Parlament. Dafür lieferten die ersten russischen Kapitalisten eine neue Steilvorlage für alle Witzbolde im Land. Die Neureichen, auch Neue Russen genannt, waren wie uniformiert mit ihren himbeerfarbenen Anzügen, dicken Goldketten bis zum Nabel und Geländewagen mit einer Kalaschnikow auf dem Beifahrersitz: Sie waren lustig.

Ein Arbeitsloser kommt zu einem Neureichen.

»Ich habe gehört, Sie suchen einen neuen Buchhalter.«

»Ja«, sagt der Neureiche, »und den alten suche ich auch.«

Eine Zeit lang musste der Neureiche ganz allein für den Neuhumor des Neukapitalismus herhalten. In diesen Witzen grüßte er die Menschen mit dem Fuß, statt mit der Hand, damit alle seine goldenen Schuhe sahen. Er bestellte im Juwelierladen ein Kruzifix, um es als großes Kreuz an seine Halskette zu hängen, wobei er den Verkäufer bat, den »Schwimmer«, also Jesus, abzulöten. Er kaufte sich ein Hotel in Nizza mit allen Gebäuden im Umkreis von fünf Kilometern und ließ den Strand weiträumig absperren. Dann stand der Neureiche allein mit einem bescheidenen Badetuch am Strand, beobachtete, wie die Sonne im Wasser unterging, und seufzte: »Wie wenig braucht der Mensch doch, um glücklich zu sein.«

Alle konnten diese Witze verstehen und über sie lachen. Außer Putin. Er fand die Neureichen nicht lustig und sprach sich für eine enge Zusammenarbeit zwischen dem Privatkapital und dem Staat aus. Übersetzt aus der Sprache der Politik in die Menschensprache hieß das ungefähr: »Ich zähle bis drei. Wer bis dahin keinen sicheren Baum gefunden hat, ist selber schuld.« Und der sicherste Baum des Landes war Putin selbst, ein Mann, der keine Witze verstand.

Der russische Witz verabschiedete sich endgültig aus der Politik und dem Business, er ging ins Private: Ein wenig Sex, ein bisschen Fußball, und ganz viel Fremdenfeindlichkeit. Früher waren die Tschuktschen und die Judenwitze absolute Renner. Der Tschuktsche wurde als der dumme Wilde dargestellt und der Jude als der Gerissene.

Beispiel eins:

Ein jüdischer Soldat ist verletzt, kann seine Leiden nicht mehr ertragen und bittet seinen Freund, ihn zu erschießen.

»Ich kann nicht, ich habe keine Munition mehr«, sagt der.

»Ach, ich kann dir welche verkaufen«, meint der Verletzte.

Beispiel zwei:

Ein Tschuktsche geht zur Polizei, um seine Frau als vermisst zu melden.

»Wie sieht sie denn aus?«, fragt ihn der Polizist.

»Weiß nicht«, sagt der Tschuktsche.

»Du musst sie aber beschreiben, damit wir sie suchen können«, erklärt ihm der Polizist. »Meine Frau zum Beispiel ist groß, schlank und blond.«

»Na dann, lass uns lieber deine Frau suchen«, sagt der Tschuktsche.

Die Tschuktschen waren lange Zeit davon überzeugt, dass Juden sich die Tschuktschenwitze ausgedacht hatten, damit man nicht nur über sie lachte. Aus demselben Grund vermuteten die Juden, dass die Tschuktschen für die Judenwitze verantwortlich waren.

Nach Auflösung der Sowjetunion haben sich die Dummen multipliziert. Alle Völker wurden im Kapitalismus zu Tschuktschen. Die Russen erzählen zum Beispiel gerne Witze über die geizigen Ukrainer, die verstockten Esten und die wilden Georgier. Die Ukrainer lachen ihrerseits gerne über die zurückgebliebenen Moldawier, die gierigen Russen und geschäftstüchtigen Armenier. Die Esten kennen viele Witze über die unzivilisierten Russen, und alle postsowjetischen Völker sind nach wie vor gut auf Juden und Tschuktschen zu sprechen. Es sind oft die gleichen alten Witze, nur die Nationalitäten wurden ausgetauscht. Den Witz über den verletzten jüdischen Soldaten habe ich zum Beispiel auch über einen Ukrainer, einen Russen und einen Armenier gehört. Aus der allgemeinen Hilflosigkeit und Unsicherheit gegenüber den neuen Verhältnissen entsteht so ein neuer Internationalismus, der alle Ethnien und Bevölkerungsgruppen in ihrer Dämlichkeit gegenüber dem Kapitalismus vereint.

In der russischen Politik, wie in der deutschen auch, sind die einzigen Spaßvögel die Liberalen. Der russische Chef der liberalen Partei, Schirinowski, versucht auf russische Art lustig zu sein: Mal haut er einem Parlamentarier während der Sitzung eins in die Fresse, mal wendet er sich an den amerikanischen Präsidenten Bush mit den Worten: »Vergiss den Irak, du Arschgeige, lass uns lieber gemeinsam Georgien plattmachen.«

Aber auch er schaffte es nicht, den russischen Präsidenten zum Lachen zu bringen. Er lacht nicht in der Öffentlichkeit. Höchstens hinter verschlossenen Türen, wenn jemand einen dieser modernen tschetschenischen Terrorwitze erzählt:

Ein Soldat der Einheit zur Terrorbekämpfung schickt seiner Oma nach Sibirien einen Sprenggürtel als Souvenir.

»Liebe Oma«, schreibt er, »du wolltest doch schon immer eine warme Weste haben, jetzt habe ich eine für dich. Sie ist große Mode in Moskau und birgt eine Überraschung. Da ist so ein kleiner Ring hintendran, wenn du daran ziehst, bekomme ich drei Tage Urlaub.«

Da lacht der Präsident!

Das russische Rebellen-Gen

Jede Nation hat eine Geschichte, die am besten mit einer anständigen Schlacht beginnt, möglichst mit einer gewonnenen. Wenn nicht, wird sie im Gründungsmythos zu einer gewonnenen umgedeutet. Bei den Amerikanern war es der Unabhängigkeitskrieg gegen England, der mit der berühmten Boston Tea Party begann. Die Deutschen leiten ihre Geschichte gerne aus der Hermannsschlacht im Teutoburger Wald ab, die neuerdings aus Gründen der politischen Korrektheit in »Varusschlacht am Kalkrieser Berg« umbenannt wurde. Laut Legende haben dort vor knapp 2000 Jahren wilde Germanen, mit handgeschnitzten Keulen bewaffnet, mehrere römische Legionen komplett im niedersächsischen Sumpf versenkt.