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Sicher hat diese Schlacht aus heutiger Sicht den Deutschen mehr geschadet als genutzt. Hätten diese Barbaren damals die Römer nicht geschlagen, wäre in Deutschland einiges anders gelaufen. Wir hätten zum Beispiel leckeres Risotto statt Klopse, guten Wein statt Bier und leidenschaftliche Liebesromanzen statt Blaskapellen als Volksmusik. Alle Nachrichtensprecher wären Blondinen mit großem Busen und die jungen Männer trügen dunkle Locken statt Glatzen. Aber die Germanen mussten ja den Römern zeigen, wer der Boss im Wald ist. Was haben sie nun davon? Döner Kebap! Natürlich hat dieser Sieg das germanische Selbstwertgefühl enorm gesteigert. Er hat den vereinzelten Stämmen geholfen, zu einer eingeschworenen Gemeinschaft zu werden, die Verantwortung für ihren Wald und Sumpf übernahm, sie pflegen und hegen und das Ganze »Heimat« nannte. Die Germanen haben gelernt, gemeinsam Entscheidungen zu treffen und sie durchzusetzen.

In der russischen Geschichte spielt die Schlacht bei dem Dorf Kulikowo eine ähnlich herausragende Rolle. Im Jahr 1380 standen die Russen auf dem Feld vor Kulikowo den ganzen Sommer hindurch den Tataren gegenüber, angeblich um zu klären, wer wem wie viel Steuern schuldete. Nach heutigem Kenntnisstand spricht vieles dafür, dass damals auf beiden Seiten Russen sowie Tataren aufmarschiert waren. Die einen wollten die anderen knebeln. Um es bürokratisch auszudrücken: Am Feld von Kulikowo kam es zum Konflikt zwischen dem damaligen russischen Ur-Finanzamt - das auch heute das stärkste und bestbewaffnete Amt in Russland ist - und den Steuerflüchtlingen, die sich vom Joch des Staates zu befreien suchten. In Russland lag die Hauptdemarkationslinie schon immer zwischen dem Staat und dem Volk. Sie trauten und mochten einander nie und nutzten jede Gelegenheit, um einander eins auszuwischen. Aber keiner konnte den anderen besiegen. Die Schlacht auf dem Kulikowo-Feld zog sich ebenfalls in die Länge. Wer letzten Endes damals gewonnen und wer verloren hat, ist bis heute unklar.

Während die Europäer sehr früh einen schwermütigen Patriotismus, eine gemütliche Zuneigung ihren kleinen Ländchen gegenüber entwickelten, gaben sich die Russen in ihrem Riesenland stets Mühe, nach alternativen Lebenskonzepten zu suchen. Sie wollten sich auf keine klare gesellschaftliche Form festlegen. Um in einem kleinen europäischen Land zu überleben, braucht es Gehorsam und Disziplin. Es werden jede Menge Gesetze verabschiedet, um das gesellschaftliche Zusammenleben bis in jede Kleinigkeit zu regeln. Individualisten werden von der Allgemeinheit abgelehnt. Die Europäer sind allein schon wegen der Enge ihrer Länder aufeinander angewiesen. Hat einer kurz mal nicht aufgepasst, schon steht er einem anderen auf dem Fuß. Im russischen Riesenreich entwickelten die Einwohner dagegen eine ablehnende, anarchistische Haltung gegenüber jeder Art von Gesetzgebung. Sie wollten und wollen keine Macht über sich dulden.

In einer endlosen Reihe nie zu Ende ausgetragener Kämpfe zwischen dem Staat und dem Volk wurde das russische Rebellen-Gen immer robuster. Seit Anbeginn teilte sich die russische Gesellschaft in Semschtschina und Opritschnina - in Landmenschen und Staatsmenschen. Die Zugehörigkeit zu einer der Gruppen war ausschlaggebend für den weiteren Lebenslauf. Die Staatsmenschen und die Landmenschen hielten einander für die schlimmsten Finger Russlands. Unter Iwan dem Schrecklichen drifteten beide Gruppen vollends auseinander. Die Staatsmenschen schworen einen Eid auf den Herrscher, infolgedessen sie sich mit den Landmenschen nicht einmal unterhalten durften. Sie trugen außerdem gemäß eines Befehls des Zaren eine Uniform: lange schwarze Kleider, ähnlich denen der Mönche in den Klöstern, mit einem auf dem Ärmel genähten Symbol ihrer Macht, ein Hundekopf, unterstrichen von einem Besen. Das Symbol deutete ihre Aufgabe an: die anarchistichen Hundeköpfe aus dem Land zu fegen. Um ihre Existenz zu finanzieren, erhoben die Staatsmenschen eine Steuer, die sie selbst eintreiben mussten.

Sie waren, um es deutlicher auszudrücken, Steuerfahnder.

Die Hundeköpfe wiederum waren diejenigen, die keine Steuern zahlten. Sie begingen Steuerflucht, das heißt sie nahmen einen Stock in die Hand und wanderten ein Stück weiter in die Steppe in der Hoffnung, der Staat würde sie dort nicht finden und in Ruhe lassen. Die Steuerfahnder folgten ihnen jedoch. Während die europäischen Staaten sich durch Eroberungs- und Kreuzzüge in weit entfernten Kolonien vergrößerten und dort bereicherten, wuchs der russische Staat quasi an Ort und Stelle, in dem er seinen Bürgern hinterhereilte.

Als Vorbeugungsmaßnahme versuchte der russische Staat immer wieder seine Bürger einzuzäunen, doch schon nach kürzester Zeit entstand in jedem russischen Zaun ein großes Loch. Die Russen liefen in alle Himmelsrichtungen, nach Süden und nach Norden. Sie gingen durch die Wüste, kletterten über Berge, bauten große Siedlungen in der Taiga und kämpften gegen Eingeborene. Sie taten alles, um dem Staat zu entkommen. Früher oder später wurden sie jedoch von dessen Gesandten eingeholt und gebändigt. Nach ihrer Zähmung fand man diese staatsflüchtigen Landmenschen in den russischen Geschichtsbüchern wieder - dort wurden sie als mutige Staatsmenschen gepriesen, die sich im Auftrag des Imperiums bemühten, neue Ländereien zur Ehre Russlands zu erobern und dem Reich wilde Stämme anzuschließen. Auf diese Weise wurde die Geschichte Russlands immer wieder neu geschrieben.

Der Hauptunterschied zwischen Russland und den europäischen Nachbarn lag und liegt also in der Größe des Landes. Der deutsche Wald, die Felder Frankreichs, die Berge Italiens, von dem Inselchen England ganz zu schweigen, sind gut überschaubar und hinter dem nächsten Baum schon fast zu Ende. Die russische Steppe verspricht dagegen Grenzenlosigkeit. Sie macht Hoffnung auf einen möglichen Neuanfang auf unbekanntem Territorium. Diese Hoffnung nährt die russische Anarchie. Kaum hat sich der Staat entspannt und ein Auge zugedrückt, schon hauen alle ab, oder es gibt eine Revolution, oder es wird geputscht. Böse Zungen behaupten, Russland habe gar keine Geschichte, weil die Geschichte eines Landes von ihren Bewohnern als Lehre benutzt werden muss. Sie bietet den Menschen die Möglichkeit, die Entwicklung ihres Landes zu reflektieren. In Russland aber fängt jeden Tag alles immer wieder von vorne an.

Kaum jemand im Westen hat eine Vorstellung von der Größe dieses Landes. Das hat nicht zuletzt auch damit zu tun, dass Russland auf den Weltkarten an einer sehr ungünstigen Stelle liegt und von daher verzerrt eingezeichnet wird. Mit den beiden Enden nach oben wirkt es auf der Karte wie ein halb zusammengerolltes Zigarettenpapierchen. Wenn man aber Russland gänzlich auseinanderrollen würde, wäre es mindestens doppelt so groß wie auf den Landkarten dargestellt. In dem deutschen Schulatlas wirkt die russische Eismeerinsel Nowaja Semlja zum Beispiel etwa so groß wie die Ostseeinsel Rügen. In Wirklichkeit ist sie jedoch mehr als 12 000 Quadratkilometer größer als Irland.

Jetzt aber mal langsam, wird der kritische Leser an dieser Stelle vermutlich sagen. Auf die Art kann man jedes Land vergrößern. Wie groß würde zum Beispiel Österreich, wenn man es nach Art eines Wiener Schnitzels platt klopfte. Und wenn man die Inseln Japans etwas auseinanderzöge, könnten sie schnell zum größten Archipel der Welt werden. Doch in Wirklichkeit dürfen zum Beispiel österreichische Düsenjäger nicht einmal Gas geben, denn kaum tun sie das, haben sie schon fremde Lufträume verletzt. Und Japaner müssen beim Angelauswerfen aufpassen: Wenn sie zu weit ausholen, landen ihre Köder in fremden Gewässern. Russen können dagegen zwei Wochen lang Zug fahren, um ihre Schwiegereltern zu besuchen, das ist normal. Andererseits verstört die Russen nichts mehr, als mit einer Grenze konfrontiert zu werden. Sofort bekommen sie Platzangst.

Mein Freund Sergej erlebte neulich solch einen russischen Grenzenalptraum in den Schweizer Alpen, wo er mit seiner Freundin Skiurlaub machte. Sergej wollte den anderen Skiläufern zeigen, was eine Harke ist. Er bog einmal falsch ab und fuhr auf der anderen Seite des Berges hinunter, dort, wo sich niemand zu fahren traute, wie er dachte. Unten angekommen lief er zur Seilbahn, um schnell wieder nach oben zu gelangen, wo seine Freundin auf ihn wartete. Der Kartenverkäufer ließ ihn jedoch mit seinem Ticket nicht passieren. Er verlangte von Sergej in für ihn schwer verständlichem Englisch etliche Euros für die Fahrt. Sergej hatte nur Schweizer Franken, er war ja in die Schweiz in Urlaub gefahren. Der Kartenverkäufer weigerte sich jedoch, Franken anzunehmen. Nach einem kurzen, heftigen Gespräch dämmerte es meinem Freund, was passiert war. Er hatte die falsche Seite des Berges erwischt und war in Italien gelandet, hoffnungslos weit von seiner Freundin, seinem Wagen und seiner Kreditkarte entfernt. Auf den Vorschlag des Kartenverkäufers, er solle sich sofort auf den Weg nach Rom zum russischen Konsulat machen, reagierte er verärgert. Er hätte den weiten Weg nach Rom in seinen Skistiefeln auch mit Sicherheit nicht geschafft.