Sergej, sonst ein ausgewogener ruhiger Mann, bekam plötzlich eine Platzangstattacke. Die Vorstellung, dass er durch eine Minutenfahrt in einem anderen Land, quasi auf der anderen Seite der Welt, gelandet war, erschreckte ihn zutiefst. Völlig außer sich stürmte er beinahe die italienische Seilbahnkabine und versuchte sich hinter den anderen Insassen zu verstecken. Als ihm die Italiener seine Verzweiflung ansahen, bewiesen sie Großmut und ließen ihn zurück in die Schweiz fahren, zu seiner Freundin und seinem Geld. Die Freundin wollte ihm dann jedoch seine Geschichte nicht abnehmen und hielt sein ganzes schreckliches Italienerlebnis für eine faule Ausrede.
Zukünftig fährt mein Freund zum Skilaufen in den Kaukasus. Dort kann er an allen Seiten des Berges problemlos abfahren.
Andrej und das Geheimnis der blauäugigen Blondine
Andrej litt unter Einsamkeit. Seit ungefähr einem Jahr war er, wie die meisten seiner Mitschüler in der Sprachschule, in seine Lehrerin Frau Schmidt verliebt. Doch die Beziehung war rein platonisch und ohne Aussicht auf Gegenseitigkeit. Frau Schmidt war jung, schlank und hatte blonde Haare, außerdem unterrichtete sie Deutsch auf eine sehr erotische Art. »Berlin ist eine herrliche Stadt«, diktierte sie, und alle Männer in der Gruppe bekamen weiche Knie.
Andrej hatte keine Lust, sein ganzes Leben in einer Männer-WG zu fristen. Er brauchte eine Frau zum Kuscheln und Zusammensein und nicht nur zum Betrachten und Bewundern. Ich empfahl ihm, die Annoncen in der größten russischsprachigen Zeitung Deutschlands zu studieren, dort kann man alles finden. Andrej war aber dem typisch russischen Aberglauben verfallen, dass alles, was in der Zeitung steht, gelogen ist. Besonders die Kontaktanzeigen.
»Sie werden doch jede Woche von den Mitarbeitern der Zeitung selber geschrieben, die sich damit über ihre Leser lustig machen wollen«, meinte er.
»Das kann man aber doch schnell nachprüfen«, entgegnete ich.
Dazu muss man wissen, dass russische Kleinanzeigen viel offener als deutsche sind. Russen verstecken sich nicht hinter einer namenlosen Chiffre-Nummer, sie geben immer gleich ihre Telefonnummer und sogar ihre Adresse an. Kurzum: Ich überzeugte Andrej, sein Glück in der Zeitung zu suchen. Er kaufte die aktuelle Ausgabe und studierte sie gründlich. Das erstaunliche Ergebnis war: Ungefähr fünfzig Frauen suchten genau ihn. Man könnte meinen, Andrej wäre der perfekte Mann. Er wurde einfach den unterschiedlichsten Frauenwünschen und -anforderungen gerecht. Er war nicht älter als 45 Jahre, hatte eine tiefe Stimme, war lebensfroh und zugleich ernsthaft, hatte keine gesundheitsschädlichen Angewohnheiten, dafür ein nettes Zuhause und außerdem war er »intelligent«, »anständig«, »großzügig«, »liebevoll« und »gut bestückt«. Mit seinen vielseitigen Eigenschaften konnte Andrej, wenn er bloß wollte, alle fünfzig Frauen aus der Zeitung glücklich machen. Er suchte aber nach einer ganz bestimmten Frau und benutzte dabei wahrscheinlich Frau Schmidt als Vorbild.
Letzten Endes fiel seine Wahl auf eine merkwürdige Annonce, die sogar mich misstrauisch machte: »Das Leben ist seltsam. Das Leben ist ein Geheimnis. Traurige blauäugige Blondine sucht verwandte Seele, die sie vor bösen Geistern schützt. Alkoholiker und Sexbesessene brauchen nicht anzurufen.«
Andrej hielt ausgerechnet diese Annonce für die glaubwürdigste.
»Was für ein Geheimnis? Wieso ist die Blondine traurig? Und was sind das für böse Geister die sie verfolgen? Das hört sich alles eindeutig nach Prügeln an«, warnte ich meinen Nachbarn.
Andrej rief die Frau trotzdem an und vereinbarte ein Treffen mit ihr. Die Zeitung hatte nicht gelogen, die traurige Blondine gab es wirklich. Sie hieß Natascha und arbeitete in einem Textilladen. Es begann eine wunderbare Freundschaft. Das Leben von Natascha war tatsächlich seltsam: Es war voll von enttäuschten Liebhabern, eifersüchtigen Ehefrauen, betrogenen Ehemännern und ganz normalen fremden Menschen, die Natascha einmal zufällig begegnet und dann für immer in ihr Leben verstrickt worden waren. Innerhalb eines Monats erfuhr und erlebte Andrej mehr als in all den Jahren zuvor. Zweimal rettete er Natascha das Leben, und mehrmals wurde er selbst von bösen Geistern verprügelt, die alle Exfreunde von Natascha waren. Außerdem kam es zu einem Autounfall, einem Selbstmordversuch und einer halben Orgie in einer arabischen Botschaft. Nach diesen aufregenden vier Wochen wurde Andrej jedoch müde und zog sich aus der Affäre zurück. Dem Geheimnis der traurigen Blondine kam er nicht auf die Spur.
Durch diese traurige Zeitungsaffäre versank er noch tiefer in seiner Einsamkeit. Ich konnte ihm wenig helfen, denn auch der beste Freund taugt nichts, wenn es um Liebeskummer geht. Seine Lebenskrise entwickelte sich so weit, dass er schließlich kaum noch aus dem Haus ging. All seine Versuche, den Fluch der Einsamkeit zu durchbrechen, waren erfolglos geblieben.
»Die Menschheit ist zum Scheitern verurteilt«, meinte er philosophisch.
Andrej ist Existenzialist. Er glaubt, alles, was ihm passiert, geschieht zugleich in und somit auch mit der ganzen Welt. In unserer gemeinsamen sozialistischen Vergangenheit gab es für Menschen mit solchen Problemen Anstalten und eine Instanz, die das Recht besaß, jedes Individuum vorübergehend von der Realität freizustellen: den Psychiater. Er konnte einen aus allen Pflichten entlassen - der Arbeitspflicht, Wehrpflicht, Heiratspflicht und sogar aus der Pflicht, immer für den Frieden und gegen den Imperialismus zu sein. Es war nicht leicht, ein Gespräch mit ihm zu bestehen, und die Angst durchzufallen war größer als bei jeder Aufnahmeprüfung.
»Stellen Sie sich einen Reiter auf einem Pferd vor. Mir wem identifizieren sie sich? Tut Ihnen das Pferd leid oder der Reiter oder der Bildhauer? Malen Sie ein Quadrat. Malen Sie ein Dreieck.«
Ohne solche Psychiater und ganz auf sich allein gestellt war mein Nachbar schon so weit, dass er bei Radiosendern anrief. Aber so ist der Mensch, er findet immer eine neue Quelle, aus der er Hoffnung schöpfen kann. Allerdings ist jede neue Quelle noch fragwürdiger als die vorherige. Kaum war sein Vertrauen in die Zeitungsannoncen erloschen, traten Verkuppelungssendungen an ihre Stelle. Neulich war ich Zeuge, wie er mit einer solchen beliebten Berliner Verkuppelungssendung telefonierte:
»Hallo, ich heiße Alexander, wohne in Charlottenburg und möchte eine Frau kennenlernen.«
Das war ein Experiment: Er gab sich als jemand anderer aus, um herauszufinden, ob es an ihm oder an der Menschheit lag. Und ob er als Alexander aus Charlottenburg mehr Chancen hatte.
»Warum nur eine Frau? Sag denen, du willst zwei kennenlernen!«, brüllte ich.
»Sei still«, zischte Andrej und machte grausame Grimassen. »Eine große, junge blonde Frau. Oder eine brünette. Kann auch klein sein, ist egal.«