Andrej hörte sich all diese Geschichten an und bekam das Gefühl, im westlichen Ausland zu verfaulen. Er konnte kaum etwas Aufregendes über sein Leben in Berlin erzählen - es stagnierte vor sich hin, während es bei seinen Freunden mit Volldampf vorangegangen war. Eine Woche verbrachten sie im Suff. Dann musste Andrej wieder nach Berlin zurück. Am letzten Abend schlug ihm der Religionsfanatiker vor, sich kostenlos eine Tätowierung bei ihm im Studio verpassen zu lassen, zur Erinnerung an ihre wunderbare Begegnung. Der Coca-Cola-Manager, Andrejs Exfreundin und der unglücklich verheiratete Grafikdesigner waren von der Idee begeistert. Warum eigentlich nicht, dachte Andrej. Ein nettes kleines Tattoo kann nicht schaden. Sie nahmen einige Flaschen Wodka und fuhren noch in derselben Nacht ins Studio. Der Meister bot Andrej das beste Piece aus seiner Sammlung an: die Kirche des heiligen Wladimir. Das riesengroße Gebäude mit fünf Kuppeln passte gerade so auf Andrejs Rücken. Andrej war verzweifelt.
»Um ein solches Gemälde auf meinen Rücken zu tätowieren, werden wir bestimmt drei Tage brauchen«, wandte er ein.
»Das ist eine Sache von drei Minuten«, beruhigte ihn der Religionsfanatiker. »Ich arbeiten nämlich nicht mit der Maschine, sondern nach einem von mir persönlich entwickelten Verfahren. Ich nenne es ›Schocktätowierung‹. Dabei wird ein von Hand gefertigtes Muster auf deinen Rücken gepresst - zack und fertig!«
Stolz zeigte der Tattoomeister Andrej ein Brett, aus dem Hunderte von Stahlnägeln herausragten. Zusammen bildeten sie die Kirche des heiligen Wladimir. Andrejs Freunde waren von der Idee begeistert.
»Natürlich wird es für dich ein Schock sein, ein bisschen Schmerz, ein wenig Leiden. Aber dafür wirst du dann noch lange an dieses religiöse Ereignis erinnert«, meinte der Religionsfanatiker.
»Wir werden dich mit Wodka betäuben, damit du nicht in Ohnmacht fällst«, beruhigten die Freunde Andrej.
Er legte sich auf die Couch. Der Tattoomeister trug die Farbe auf die Nägel auf. Dann gab er Andrej ein Schnapsglas, desinfizierte mit dem Rest des Alkohols seinen Rücken und presste das Nagelbrett mit voller Kraft darauf. Der Schmerz war so stark, dass unser Freund für einige Minuten das Bewusstsein verlor. Als er wieder zu sich kam, stellte er fest, dass er sich nicht mehr richtig bewegen konnte. Wahrscheinlich war bei der Prozedur irgendein Rückennerv verletzt worden.
In der Badewanne fiel Andrej beinahe ein zweites Mal in Ohnmacht, als er im Spiegel seinen Rücken sah. Dem betrunkenem Tattoomeister war ein fataler Fehler unterlaufen: Er hatte das Brett falsch aufgesetzt und die Kirche verkehrt herum auf den Rücken gedrückt - mit den Kuppeln nach unten. Nun sah sie wie eine riesige fünfbeinige Krake aus, und war als Kirche überhaupt nicht mehr erkennbar. Zuerst wollte Andrej dem großen Meister die Fresse einschlagen, doch Letzterer saß volltrunken in seiner Werkstatt und war nicht ansprechbar. Am nächsten Tag verließ Andrej seine Heimat und flog zurück nach Berlin. Verfluchtes St. Petersburg! Sein Rücken sei nun hoffnungslos versaut, meinte er. Die Ärzte hätten ihm zwar gesagt, dass sie ihm ein Implantat aus Kunststoff annähen oder ein Stück Haut aus seinem Hintern verpflanzen könnten, aber das sei tierisch teuer und auch nicht ungefährlich.
»Wäre ich nur mit euch nach Teneriffa gefahren, dann wäre das alles nicht passiert«, seufzte er bedrückt. Und wir gaben ihm Recht.
Blauwürste und Dame mit Hut
In Dezember beschlossen Sergej und ich mit seinem Auto einen Ausflug nach Charlottenburg zu unternehmen, um einen alten Freund von mir zu besuchen. Thomas, ein ehemaliger Theaterkollege von mir, hatte sich ein Jahr zuvor von der Kunst verabschiedet und als Geschäftsführer ein Restaurant in der Nähe des Savignyplatzes übernommen. Seitdem langweilte er sich zu Tode. Jedes Mal, wenn ich ihn besuchte, erzählte er mir, wie toll dieses Lokal früher gewesen wäre - das einzige Restaurant in der Stadt mit echter fränkischer Küche im Angebot: blaue gekochte Bockwürste in Apfelsud und dazu erlesene Weine.
»In den Zwanzigerjahren wurden hier sogar Wohltätigkeitskonzerte veranstaltet, und jede Menge berühmte Musiker traten hier auf. Heute kommen nur noch drogenabhängige Punker mit ihren Gitarren bei uns vorbei. Sogar die Touristen meiden uns und fahren inzwischen nach Ost-Berlin«, beschwerte sich Thomas.
»Ost-Berlin ist heute in«, bestätigte Sergej, der neuerdings nur in Reimen Deutsch sprechen konnte. Wir saßen alle drei an einem Ecktisch, draußen leuchteten Girlanden, die ganze Stadt verwandelte sich unaufhaltsam in einen einzigen Weihnachtsmarkt.
Das Restaurant war an dem Abend leer, nur zwei Rentner nippten an ihren Kaffeetassen, und ein junges Pärchen besprach seine interne Beziehungssituation. Keiner interessierte sich für Thomas’ blaue Würste. Da ging die Tür auf, und eine Frau betrat das Lokal. Sie trug ein langes schwarzes Kleid unter dem Mantel und hatte einen riesengroßen Hut auf dem Kopf, als käme sie aus einer anderen Zeit, oder als hätte der Fundus der Komischen Oper seine Garderobe zu Weihnachten verramscht.
»Ich habe Hunger«, sagte sie zu Thomas, »was würden Sie mir empfehlen?«
Thomas empfahl ihr natürlich die blauen Würste, dazu einen Rotwein und Pflaumenkuchen zum Dessert. Die Frau aus den Zwanzigerjahren aß alles auf, trank anschließend noch einen Cognac und weigerte sich dann zu bezahlen. So etwas passierte Thomas zum ersten Mal. Zwar war es schon mehrmals vorgekommen, dass Kunden weggelaufen waren, ohne ihre Rechnung zu begleichen, doch diese Frau hatte nicht vor wegzulaufen.
»Ich zahle nie«, wiederholte sie nur immer wieder, »das lehne ich prinzipiell ab.«
Thomas war aufgeschmissen. Die Frau lächelte ihn freundlich an und fragte, ob er vielleicht eine Zigarette für sie habe. Er riet ihr stattdessen mit bösem Gesicht, die Rechnung zu bezahlen: »Sonst werde ich die Polizei alarmieren!«
»Tun Sie, was Sie für richtig halten, ich zahle nie«, wiederholte die Dame.
Thomas ging zum Telefon, kehrte dann aber wieder zu der Dame zurück. Er hatte keine Lust auf die Polizei.
»Überlegen Sie es sich noch einmal gründlich, das kann nämlich schlecht für Sie ausgehen!«, warnte er.
»Junger Mann«, sagte die Dame, »brüllen Sie mich nicht so an, alarmieren Sie von mir aus die ganze Stadt, ich werde nicht weglaufen. Kann ich noch einen Rotwein haben?«
»So eine Frechheit!«, rief Thomas verzweifelt und telefonierte dann doch mit der Polizei.
Alle Gäste starrten nun die Dame mit dem Hut an. Sie benahm sich sehr gelassen, als täte sie so etwas jeden Tag. Wahrscheinlich tat sie das auch. Einer der Rentner gab ihr eine Zigarette. Die Polizei kam und kam nicht. Thomas wurde immer nervöser und drehte in seinem Restaurant sinnlose Kreise. Die Dame strahlte währenddessen weiter Freundlichkeit aus. Eine halbe Stunde verging.
»Regen Sie sich nicht so auf«, beruhigte sie Thomas, »sie kommen schon noch - früher oder später. Die Polizei hat heutzutage viel zu tun.«