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Russische Fische würden nie auf einen solchen Trick reinfallen, aber am Südpool sei sowieso alles anders als bei uns, meinte Andrej. Alles sei dort umgekehrt. Es sei sehr kalt, obwohl es doch Südpol heiße, das Abflusswasser im Waschbecken drehe sich in die falsche Richtung, und wenn eine Möwe mit dem Arsch nach vorne fliegt, heißt es, gleich wird es windig und stürmisch werden.

Wie Russen Weihnachten feiern 

Bei uns in der Schönhauser Allee freuen sich die Vietnamesen aus dem Textil-Souvenir-Laden immer besonders auf Weihnachten. Das ganze Jahr über verstecken sie sich in ihrem Geschäft, sind kaum zu sehen hinter Bergen von Billigpantoffeln, Parfüm und künstlichen Blumen und spielen »Schiffe versenken« oder so etwas. Auf jeden Fall haben sie immer ein Blatt Papier vor sich und einen Kugelschreiber in der Hand. Vielleicht füllen sie auch irgendwelche Anträge aus oder schreiben Briefe an die Verwandtschaft. Kaum ein Kunde störte ihre Ruhe.

Anfang Dezember bekamen sie letztes Jahr eine neue Warenlieferung: christlicher Kitsch made in China - ein leuchtender Jesus für 9,99 Euro mit Stecker. Wenn man ihn anschloss, strahlte er in allen Farben des Regenbogens. Es gab außerdem noch ein beleuchtetes Bild vom Abendmahl, auf dem alle in umgekehrter Reihenfolge am Tisch saßen, und eines von der heiligen Maria mit kleinen Glühbirnen in den Augen, integriertem Lautsprecher und Akkus. Jetzt konnte man den Textilladen schon von weitem erkennen - er leuchtete und strahlte. Die Vietnamesen hofften auf guten Umsatz. Das Feuerwerk der Weihnachtsbotschaft schien aber die guten Christen eher zu verschrecken. Sie kauften lieber in den herkömmlichen Läden Weihnachtsschmuck und Pyramiden, die trotz deutscher Wertarbeit fast alle klemmten und bei dem ersten Reparaturversuch auseinanderfielen.

Während sich in Deutschland die Weihnachtsfeiern zu einem pragmatischen Rabattfest entwickeln, wobei die Bevölkerung am Jahresende alle Regale in den Geschäften leerräumen muss, feiern die Russen noch immer irrationaclass="underline" Die Männer betrinken sich gründlich, und die Frauen üben sich im Wahrsagen. Jedes Jahr werden neue Chiromantie-Rezepte in der Öffentlichkeit diskutiert, wobei die Fragen immer die gleichen bleiben: Was erwartet dich im neuen Jahr? Kommt dein dir vom Schicksal Vorbestimmter? Wird er gut aussehen?

»Geh am Heiligen Abend aufs Dach. Schreib auf einen Zettel deine geheimen Wünsche und zünde ihn mit einer Kerze an. Brennt der Zettel ab, wird dein Wunsch erfüllt. Geht die Flamme aus, muss du noch ein Jahr auf Erfüllung warten.«

Das hört sich zwar wie blanker Unsinn an, ist aber eine Volksweisheit, die auf tausend Jahre alte Erfahrungen zurückgeht. Die Sitte, am Heiligen Abend wahrzusagen, ist älter als das Christentum. Bevor die Russen christianisiert wurden, feierten sie wie die meisten anderen Völker der nördlichen Halbkugel im Dezember das Sonnenwendfest. Denn auch die Russen hatten frühzeitig bemerkt, dass die Sonne sich im Winter immer seltener blicken lässt, und oft für lange Zeit sogar ganz verschwindet. Die Menschen hatten Angst, sie würde nicht mehr zurückkommen. Deswegen übten sie sich im Wahrsagen. Dann aber kehrte die Sonne doch zurück, und sie übten sich im Feiern. Sie tanzten und sangen, gingen mit Holzpfählen von Haus zu Haus, klopften an alle Türen und verkündeten die frohe Botschaft: »Die Sonne ist zurück!« Jeder musste ihnen dafür Geld, Brot und Schnaps geben. Sich dumm stellen - »Ach wirklich?«, oder »Danke, ich wurde schon unterrichtet« - ging nicht. Die Sitten waren hart. Also war es für die Männer die beste Lösung als Erster mit einem Holzpfahl auf die Straße zu gehen.

Die Christianisierung Russlands hat nicht viel an diesen Gebräuchen geändert. In ländlichen Gegenden ziehen die Bewohner auch heute noch von Haus zu Haus, klopfen an alle Türen, rufen: »Kommt raus, Jesus wurde geboren!« Die Nachbarn kommen ihnen entgegen, um auf des Heilands Wohl zu trinken, dann ziehen die Männer zusammen weiter. Die Mädchen bleiben beim Wahrsagen.

»Stell ein Wasserglas, einen Spiegel und eine Kerze auf den Tisch. Schau durch das Wasser auf die Kerze in den Spiegel. Nach einer Stunde wirst du einen Ring erblicken. Ist es ein Ring aus Kupfer, kommst du in eine arme Familie. Ein Silberring bedeutet: ein guter Kerl. Ein Ring mit Stein: Du wirst einen wohlhabenden Mann treffen. Siehst du aber einen Goldring, heiratest du einen Manager.«

1918 stieg Russland zusammen mit dem Rest der Welt auf einen neuen fortschrittlichen Kalender um, weil die Wissenschaftler herausgefunden hatten, dass ein Jahr länger als 365 Tage dauert. Die russische orthodoxe Kirche weigerte sich jedoch, diesen neuen Kalender anzuerkennen. Seitdem gibt es in Russland alle religiösen Feiertage doppelt. Den Russen ist es nur recht. Am 31. Dezember wird das Neujahrfest nach dem neuen Kalender gefeiert, am 6. Januar Weihnachten nach dem alten Kalender und am 13. Januar das Neujahrsfest auch nach dem alten Kalender. Früher, im Sozialismus, wurden die Leute in den kurzen Pausen zwischen den Feiertagen gezwungen, zur Arbeit zu gehen. Vor einiger Zeit hat das russische Parlament endlich mit dieser unmenschlichen Praxis Schluss gemacht. Es wurde ein neues Gesetz bezüglich der sogenannten »Weihnachtsferien« verabschiedet. Danach werden alle Bürger für die zwei ersten Januarwochen von der Arbeit freigestellt. Vielleicht gestalten sich die Vorbereitungen auf die Winterfeste deswegen seither besonders üppig. Moskauer Zeitungen berichten, dass sich ganze Armeen von Weihnachtsmännern zum Angriff auf die Stadt vorbereiten und fast in jedem Bezirk Schlittenrennen angekündigt sind.

Wir feiern in Berlin gemischt, russisch-deutsch, zusammen mit unseren Nachbarn, einer kaputten Pyramide vom letzten Jahr und dem vietnamesischen Leucht-Jesus. Dabei verfallen wir alle kurz vor Weihnachten in einen Wahrsage- und Aberglaubenwahn ungeahnten Ausmaßes.

Denn Wahrsagen beruhigt. In einer russischen Zeitung habe ich einmal eine unkonventionelle Wahrsagemethode entdeckt, die wir bei Gelegenheit unbedingt ausprobieren müssen. Sie heißt »Frag die Katze« und ist nicht besonders aufwendig:

»Am Heiligen Abend rufen Sie Ihre Katze. Wenn sie die Schwelle des Zimmers mit der linken Pfote betritt, werden all Ihre Wünsche in Erfüllung gehen, wenn sie aber mit der rechten zuerst eintritt, dann...«

Wir bereiten das jetzt schon vor und dressieren die Katze. Wenn sie es am 24. Dezember nicht schafft, dann kann sie es am 6. Januar noch einmal versuchen. Im Moment sitzt sie gerade auf der Schwelle zwischen den Zimmern. Ihre Pfoten sind nicht zu sehen, sie sitzt nur da wie eine Fellkugel und schnurrt leise vor sich hin.

Karl Marx und seine Leser

Mein Freund Sergej hat eine neue Lieblingsbeschäftigung für sich entdeckt. Er kauft alte Bücher bei eBay, signiert sie und lässt sie wieder versteigern. Auf meine Frage, was es Neues gäbe, zeigte er mir stolz drei neu erworbene Bände auf seinem Tisch: Das Kapital von Karl Marx, die Ausgabe von 1881. Auf dem ersten Blatt der Trilogie stand in Handschrift: »Viel Spaß beim Lesen, mein Mäuschen. Dein Marx.«

»Ein einmaliger Fang!«, meinte Sergej. »Die einzige signierte Marx-Ausgabe!«

Karl Marx persönlich hat nach Sergejs Überzeugung diese Erstausgabe seiner lieben Frau geschenkt, nachdem sie ihn gefragt hatte, was er denn da die ganze Zeit in der Bibliothek getrieben habe. Ich musste sehr darüber lachen, vor allem wegen der kindlichen Handschrift

»Das wird dir kein Mensch abkaufen, man sieht doch, dass du es selbst gerade eben...«

»Stimmt nicht!«, entgegnete mein Freund. »Die anderen Bücher - ja, vielleicht, manchmal, aber dieses eine Mal ist alles echt. Außerdem will ich das Buch gar nicht verkaufen. Ich wollte schon immer wissen, was sich hinter diesem Titel verbirgt. Früher in der Sowjetunion hatten wir keine Zeit, uns mit Marx zu beschäftigen. Du erinnerst dich doch an die 24-bändige Ausgabe?«, fragte er.