»Nein, gar nicht«, schüttelte ich den Kopf. Ich erinnerte mich nur an die erste sowjetische Fernsehserie, die pünktlich zum hundertsten Todestag des Führers des Weltproletariats ausgestrahlt wurde. Sie heißt Karl Marx: Die Jugendjahre, Reife. Seine jungen Jahre wirkten unpolitisch, eine Art »Gute Zeiten - Schlechte Zeiten« nur mit Marx in der Hauptrolle. Die Reife war langweilig. Die 24-bändige sowjetische Ausgabe von Marx ist an mir gänzlich vorbeigegangen. Wahrscheinlich lag es daran, dass ich damals noch nicht geraucht habe. Denn politische Literatur hat der sowjetische Staat immer sehr günstig an die Bevölkerung abgegeben, oft sogar pflichtverschenkt. Die Bücher waren immer auf gutem dünnem Papier gedruckt, das Zigarettenpapier sehr ähnlich war. Daher vermute ich, dass Marx in Russland mehr inhaliert als gelesen wurde.
In den Ländern des Ostblocks fanden seine Bücher unterschiedliche, oft sehr unkonventionelle Verwendung. In Bulgarien, das weiß ich aus zuverlässigen Quellen, musste der Staatsverlag Das Kapital jedes Jahr in ständig wachsender Auflage nachdrucken. Anfangs freuten sich die Parteifunktionäre über diese rasche Verbreitung des Marxismus unter den bulgarischen Massen. Nach einigen Jahren wurde der Staat jedoch misstrauisch und stellte eine Untersuchung an. Die steigende Nachfrage des Werks klärte sich bald auf. Das Kapital wurde in Bulgarien in einem wertvollen Lederumschlag herausgegeben. Die begeisterten Leser enthäuteten die Bände und nähten aus dem Umschlag Handschuhe und Frauentaschen.
Solche Pannen waren in Bulgarien keine Seltenheit. Zur gleichen Zeit, als die meisten Bulgaren in Lederhandschuhen herumliefen, bestellte eine japanische Firma eine große Ladung bulgarischer Radioempfänger, die mit veralteter Technologie produziert wurden und mit japanischen Geräten nicht zu vergleichen waren. »Von Marx lernen, heißt den Kapitalisten misstrauen«, dachten sich die bulgarischen Genossen und schickten erst einmal eine kleinere Ladung. Ihre schlimmsten Befürchtungen wurden bestätigt: Die pfiffigen Japaner hatten es auf die Holzummantelung abgesehen. Die bulgarische Elektronik im Inneren schmissen sie skrupellos weg, und aus den Kästen bauten sie wertvolle Truhen und Nachttischchen.
Die Ungarn waren da schon klüger. Sie produzierten Das Kapital gleich als Hörbuch auf sechs Kassetten. Auf diesen las ein Schauspieler mit erotischer Stimme den gesamten Text vor. Man munkelte, er hätte dafür die höchste Auszeichnung, »Held der Arbeit«, bekommen und sei später verrückt geworden. Besonders populär waren diese Kassetten bei den sowjetischen Touristen, weil sie so billig waren. Sie überspielten Das Kapital mit Musik aus dem kapitalistischen Lager.
Ein wahrlich tragisches Schicksal hatte das Werk von Karl Marx in der Mongolei. Im Auftrag der mongolischen Regierung übersetzte ein Wissenschaftler das Buch nicht weniger als zwanzig Jahre lang in seine Heimatsprache. Es war eine höllisch komplizierte Arbeit, weil die meisten Begriffe aus Marx’ Vokabular in der mongolischen Sprache gar nicht existierten. Nicht einmal solch relativ einfache Worte wie »Arbeiter« oder »Bauer« waren vorhanden. Also musste der Wissenschaftler eine neue marxistisch orientierte mongolische Sprache erfinden, die jedem einfachen Viehzüchter den Einstieg in die Politökonomie ermöglichte. Aus dem »Bauer« wurde der »Erdmelker«, aus dem Arbeiter der »Maschinenhirt«. Der Wissenschaftler erhoffte sich durch diese aufwendige Arbeit große Ehren, mindestens aber ein Denkmal zu Lebzeiten und eine großzügige Frührente. Doch als er mit dem Werk fertig war, kippte der Sozialismus, und die Nachfrage für marxistische Literatur ging in den Keller. Der Übersetzer sah sein Lebenswerk zerstört, ihn plagten große finanzielle Probleme und eine tiefe Depression. Als vielleicht einziger Mongole, der den ganzen Marx auf mongolisch verdaut hatte, wusste er zu gut über die kommende Zeit Bescheid. Der Wissenschaftler dachte über Selbstmord nach. Die Geschichte nahm aber ein gutes Ende: Der mäzenatische Kapitalist George Soros sprang für die mongolische Kapital-Übersetzung ein und veröffentlichte sie in einer volksnahen Ausgabe - auf sehr dünnem Papier und in einem feinen Ledereinband.
Ein Toast auf Joyce
»Komm, lass es uns noch ein letztes Mal probieren! Ich habe eine ganz tolle Idee, diesmal wird es klappen.«
Mein Nachbar Andrej, sonst eigentlich ein ruhiger und zurückhaltender Mensch, liebt es, sich selbst hohe Ziele zu setzen und andere in seine hoffnungslosen Projekte mit hineinzuziehen. Aber nur, wenn sie ihm widersprechen - dann plötzlich wird er hyperaktiv bis zur Unerträglichkeit. Sein neuestes Projekt hieß, den Ulysses von James Joyce durchzulesen. Unser gemeinsamer letzter Versuch lag genau ein Jahr zurück - ein kleines Jubiläum. Damals scheiterten wir ruhmlos bereits am ersten Drittel des Buches, obwohl Andrej tolle Ideen zur Bezwingung des Textes hatte.
»Das Problem liegt darin«, sinnierte er, »dass man über den Anfang nicht hinauskommt.«
Sein ganz persönliches Einknicken lag auf Seite 71, meines in der Nähe. Also schlug er vor, das Buch von beiden Enden gleichzeitig zu lesen, vom Anfang und vom Ende.
»Das erlaubt dem Leser, mit Spannung zu verfolgen, wie zwei langweilige Geschichten sich genau in der Mitte des Buches treffen«, meinte er.
Um seine These zu beweisen, stellte Andrej komplizierte logische Paradoxa auf: »Langeweile erzeugt Spannung« behauptete er beispielsweise oder: »Zwei Parallelen kreuzen sich im Unendlichen.« Das hörte sich klug an, hat uns aber im Endeffekt nichts genutzt. Auf mich übte dieser Text eine hypnotische Wirkung aus. Er rief Assoziationen hervor, die nichts mit dem Buch zu tun hatten. Meine Gedanken schweiften ab. »Ein interessanter Mensch«, dachte ich über den Autor. Auf dem Photo im Buch, erinnerte mich Joyce mit seinen runden Brillengläsern und dem hinterhältigen Lächeln an einen verrückten Professor aus meiner Studienzeit, Arkadij Schnur, der für das Fach Allgemeine Physik zuständig war und unverständliche Vorlesungen hielt, die aber sehr beliebt waren.
Professor Schnur verachtete die Allgemeine Physik, er war deutlich von diesem Fach unterfordert. Uns war bald klar, dass Professor Schnur ein Genie war, Träger einer höheren Wahrheit, die sich uns niemals erschließen würde. Genau das faszinierte uns an seinen Vorlesungen. Vor Beginn saß er neben der Tafel und lächelte jeden, der hereinkam, hämisch an. Dazu machte er als etwas seltsame Begrüßungsgeste eine herablassende Handbewegung, mit der er uns sagen wollte: »Ach, du auch? Vergiss es, keine Chance!« Schnur trug einen schwarzen Anzug, der deutlich älter war als die Große Oktoberrevolution, seine Brille war mit Klebeband zusammengehalten, und seine Frisur ließ vermuten, dass er am Abend mit dem Kopf am Ventilator eingeschlafen war. Dazu kamen eine ständig offene Hose und ein Jackett mit großen Löchern unter den Achseln, wobei die eine Seite mit weißen Fäden zugenäht war.
Schnur fing stets ruhig an. Er sagte: »Guten Tag« und »heute also«, doch schon nach einer Minute sprang er mit der Kreide in der Hand im Hörsaal hin und her und schleuderte Sätze durch die Luft, die uns in eine Art Trancezustand versetzten. Die mit der einen Hand an die Tafel geschriebenen Formeln wischte er mit der anderen sofort wieder ab, sodass niemand von uns eine Chance hatte, sich diese Signale aus der fremden Welt der Physik zu notieren. Mit der Abwischhand kratzte er sich auch die Nase, fuhr sich in die Haare und durchs Gesicht und verwandelte sich dabei in einen weißen Clown, der ständig von einer Kreidewolke umhüllt war. Außerdem hatte Schnur die Angewohnheit, während der Vorlesung an seiner Hose zu ziehen. Mal zog er sie hoch bis unter die Arme, mal kuckte sein halber Hintern hervor, wenn er sich umdrehte. »Zeit ist Jetzt!«, rief er dabei und »Raum ist Masse!« Wie hypnotisiert starrten wir auf den Professor: eine Ansammlung von Analphabeten, die sich anstrengten, einen Zipfel der Weisheit zu erhaschen. Manchmal lachte er laut, woraus wir messerscharf schlossen, dass er gerade einen Witz gemacht hatte.