»Sie haben einen ausgezeichneten Geschmack, junger Mann!«, sagte die Psychologin, »Ziehen Sie eine Karte.«
Sergej bekam eine Drei plus - dank Schipr.
Im Alltag der Männer spielten Parfüms abgesehen von wenigen Ausnahmen kaum eine Rolle. Frauen konnten sich mit der kargen Auswahl natürlich nicht zufriedengeben. Die Düfte des Westens zogen sie an. Westliches Parfüm gab es bei uns zwar auch, aber nur an schwer erreichbaren Stellen: auf dem Schwarzmarkt, in den wenigen Dollarläden und im H/N, dem sogenannten »Haus für Neuvermählte«. Dort konnte jeder, der im Besitz eines Brautscheins war, einen einmaligen Einkauf tätigen - ein Fläschchen Aramis, Vanderbilt oder Climat von Lancôme sowie das sehr populäre polnische Parfüm mit dem vielversprechenden Namen Vielleicht. Man musste allerdings gleich danach heiraten. Ein solch dramatischer Zustand konnte natürlich auf Dauer nicht gutgehen. Deswegen sind viele Bräute in den Westen ausgewandert. Die Bräutigame zogen wenig später nach.
Natürliche Bevölkerungsentwicklung
Wenn ich das Verhalten meiner russischen Nachbarn mit dem Verhalten der deutschen vergleiche, sehe ich deutliche Unterschiede. Besonders was die Lebensplanung betrifft. Russen planen ihr Leben sehr kurzfristig, Deutsche machen sich mehr Gedanken um die Zukunft, als um die Gegenwart. Das bremst sie in ihrer natürlichen Entwicklung. Langfristige Planung ist zwar unverzichtbar für einen Schachspieler, der alle Züge des Gegners vorausberechnen muss, um zu gewinnen. Im Leben geht eine solche Rechnung aber nicht auf. Jeder, der von sich behauptet, er wisse, was in zwanzig Jahren passiert, ist ein Lügner.
In Russland hat eine solche defensive Lebenshaltung kaum Anhänger. Die Menschen dort halten nicht viel von langfristiger Lebensplanung und versuchen aus dem aktuellen Geschehen herauszuholen, was geht. Für Fragen, wie es ihnen in zwanzig Jahren gehen wird, haben sie keine Zeit. Auch ist Versicherung in Russland ein Fremdwort geblieben. Keiner wird dort für etwas Geld ausgeben, was möglicherweise irgendwann einmal passieren könnte - oder auch nicht. Die Deutschen dagegen gehören zu den bestversicherten Mitgliedern der menschlichen Gesellschaft. Zur üblichen Lebensgrundlage jedes anständigen Bürgers gehören wenigstens ein Dutzend Versicherungen: eine soziale, eine Kranken-, eine Renten-, Pflege- und Lebensversicherung sowie eine Unfallversicherung, eine Reiseversicherung, eine Rechtsschutz-, eine Kfz-, eine Hausratversicherung und eine für den Fall, dass man auf die Idee kommt, sich einmal in einem Porzellanladen wie ein Elefant aufzuführen. Das alles gilt als absolutes Minimum an Sicherheit und der Inhaber der oben aufgezählten Policen kann bei seinen Freunden durchaus als wagemutig und risikobereit durchgehen.
Ein solcher Versicherungswahn hat Geschichte. Als ich, damals ein frischgebackener Flüchtling, vor fünfzehn Jahren nach einer langen abenteuerlichen Reise in einem Berliner Ausländerheim landete, besuchten uns als Erstes nicht die Zeugen Jehovas, sondern Versicherungsvertreter. Sie erklärten uns in leicht verständlicher Fingersprache, was wir als Erstes bräuchten, um in Deutschland bleiben zu können. Dieses kindische Streben nach einer Vollkaskoabsicherung fürs Leben ist menschlich durchaus verständlich, verhindert aber die Bevölkerungsentwicklung. Denn jede Entwicklung kann in einem rundum abgesicherten Leben nur Verschlechterung bedeuten. Das Kinderkriegen ist ein Zusatzrisiko, und das Sterben macht eine Entgegennahme der Versicherungsprämie unmöglich. Deswegen sterben die Bürger in einer überversicherten Gesellschaft äußerst ungern, mit großer Verzögerung oder gar nicht. Und wenn sie doch sterben, dann verwesen sie nicht.
Dieses Phänomen haben wir den großen Supermarktketten zu verdanken. Diese fingen vor dreißig Jahren an, immer größere Verkaufsflächen zu nutzen, um mehr und preiswerter verkaufen zu können. Um sich vor dem Verfall ihrer Produkte abzusichern, setzten sie auf Lebensmittel mit einem hohen Anteil an Konservierungsstoffen. Letztere hatten keine direkte schädliche Wirkung auf den Organismus der Verbraucher, ließen sich dort aber nieder und mumifizierten die Bevölkerung in einem Jahrzehnte währenden Prozess. Das Ergebnis ist, dass Bürger, die bereits seit zehn oder mehr Jahren tot sind, noch immer so frisch aussehen wie die Tomaten im Supermarkt oder Lenin in seinem Mausoleum. Ihre Versicherungsprämie bekommen sie trotzdem nicht.
»Die Bürger wollen Klarheit und Sicherheit!«, hört man hier ständig von den Rednerbühnen. Damit unterstützen die Politiker den Pragmatismus der Bevölkerung. Die Bürger reagieren darauf, indem sie ihre eigene Existenz als eine Art Rechnung begreifen, die dem Staat zu stellen ist. Auf ihr ist links die erbrachte Leistung eingetragen, rechts der dafür zu erwartende Betrag mit ausgewiesener MwSt., Sonntagszuschlag und Pendlerpauschale. Wenn man lange genug hinund hergependelt ist, will man die Kasse klingeln hören. Doch die Kasse schweigt, die Zukunft bleibt ungewiss, unabhängig vom Willen der Bürger. Das macht die Gemüter unfroh.
Neulich fand ich eine Bestätigung dieser These in einem Museum in Süddeutschland. Die Ausstellung hieß Dokumente. Ich möchte ausdrücklich betonen: Ich erfinde nichts, ich war tatsächlich da. »Die Rechnung - das älteste Kulturgut der menschlichen Geschichte« stand im Prospekt. Ausgestellt waren Holzrechnungen aus dem Teutoburger Wald, die unglaublich kompliziert aussahen. Mich hat diese Ausstellung zum Lachen gebracht. Denn bei allem Respekt vor Pragmatismus - freie Sexualität und Freiheit überhaupt sind mit einer Hausratversicherung nicht zu vereinbaren. Das Leben bleibt immer ein Risiko, die Rechnung geht nie auf.
Die Qual der Wahl
Vor einiger Zeit standen in Berlin mal wieder Wahlen an. Meine russischen Nachbarn juckte das in keiner Weise: Sie hatten keine deutsche Staatsangehörigkeit. Die Fischköpfe auf den Wahlplakaten, die regelmäßig an den Kastanienbäumen unseres Bezirks aufgehängt wurden, lächelten nicht ihnen zu. Ich war der einzige Russe im Haus, der wählen durfte - abgesehen von meiner Frau, die sich aber für Politik nicht interessiert. Und ich war verzweifelt, denn ich wusste nicht, wen ich wählen sollte und wie. Als Wähler war ich nämlich Jungfrau. Ich hatte noch nie im Leben gewählt. In der Sowjetunion waren meine Eltern jedes Jahr wählen gegangen und zwar immer um 6.30 Uhr morgens. Politisch gesehen war das sinnlos, es gab nämlich nur einen Kandidaten. Dafür aber konnte man in den Wahllokalen Sprotten, Wurst und Apfelsinen, zu lächerlichen Preisen erwerben. In der Regel waren diese begehrten Lebensmittel schon vormittags vergriffen, und nach zwölf Uhr standen die Wahllokale leer. Die Staatslenker hatten auf diese Weise alle Stimmen bis Mittag bereits gezählt und die Wahl wie immer gewonnen. Ich boykottierte diesen Schwachsinn, außerdem schmeckten mir die lettischen Sprotten nicht.
Später in Deutschland durfte ich lange Zeit gar nicht wählen. Fünfzehn Jahre lang besaß ich einen von der deutschen Ausländerbehörde ausgestellten »Alienpass«. Ich war staatenlos - nichts ging mich an. Seit einer Weile bin ich deutscher Staatsbürger, und verlor schließlich in der Grundschule Nummer 11, im Klassenzimmer meines Sohnes mit 38 Jahren meine Wähler-Jungfräulichkeit. Auch meine Frau, meine Mutter und meine Tante, die in Kreuzberg wohnte, haben dort zum ersten Mal gewählt. Ich war froh, als es vorbei war. Ich hatte den Wahlkampf von Anfang an als Bedrohung aufgefasst. Ein massiver Angriff der politischen Elite auf die Bevölkerung. Zuerst bekam der Osten einen Tritt in den Hintern, zusammen mit der Erkenntnis, dass er möglicherweise an den falschen Stellen saniert wurde. Der Norden haute auf den Süden ein und umgekehrt.