»Berlin bekommt einen neuen Knast«, las ich neulich. Das Thema Knast stieß auf ein unerwartet großes Interesse in der Runde. Jeder hatte einen Freund, der mal gesessen hat oder einen, dem das gerade blühte.
»Ein neuer Knast? Endlich!«, sagte meine Frau. »Wird auch langsam Zeit.«
Der Elektriker aus der Kneipe, in der sie früher gearbeitet hatte, musste einmal dreißig Tage in Tegel absitzen, wegen Schwarzfahrens und anderer Strafen, erzählte sie. Er fuhr freiwillig ein, wurde aber schon nach zwei Tagen vorzeitig entlassen - aus Platzmangel. Auch ich konnte eine Geschichte beisteuern: Bei uns im Theater hatte sich einmal ein älterer Herr als Theaterdirektor beworben. Er sah sehr solide aus und hinterließ einen guten Eindruck im Bewerbungsgespräch, wo er erzählte, wie er das Theatralische im Leben über alles schätze. Danach verschwand er jedoch genau so plötzlich wie er aufgetaucht war. Monate später erfuhren sie im Theater, ihr Beinahe-Direktor sitze wegen Betrugs in Tegel. Er hatte als Geschäftsführer einer nicht existierenden Baufirma Einfamilienhäuser verkauft, die ihm gar nicht gehörten und war dann mit der Anzahlung abgehauen.
»Ich war auch schon mal im Tegeler Knast - als Blumenbote!«, begann Sergej seine Geschichte. Er schloss die Augen und legte eine lange Pause ein.
»Blumenbote im Knast? Wie das? Erzähl!«, drängten wir ihn.
Also ließ sich unser Freund überreden weiterzuerzählen:
»Bevor ich Andrej kennengelernt habe und bei ihm eingezogen bin, hatte ich eine kleine Wohnung in Neukölln gemietet, neben einem Ausländerheim. Ich habe damals viele Landsleute aus diesem Heim kennengelernt. Es gab dort sehr unterschiedliche Menschen, zum Beispiel welche, die erfolgreich kriminell waren, und solche, die es lieber hätten lassen sollen. Ich habe mich besonders mit Ivan angefreundet, einem schlechten Verbrecher. Einmal war er schon ertappt und des Landes verwiesen worden. Aber er kam illegal wieder zurück nach Deutschland und landete hier schnell im Knast. Was er genau angestellt hatte, weiß ich nicht, aber das ganze soll total in die Hose gegangen sein. Ein paar schlaue Freunde von ihm hatten einen tollen Plan ausgeheckt, aber als der nicht aufging, liefen alle weg, nur Ivan blieb stehen. Als Illegaler, der zum zweiten Mal in Deutschland war, wurde er diesmal nicht abgeschoben, sondern zu drei Jahren Haft verurteilt und in Tegel eingebuchtet.
Dort hatte er gleich am ersten Tag eine Auseinandersetzung mit einem deutschen Knacki. Mangels Sprachkenntnissen war Ivan daran gehindert, dem Kollegen sein Unrecht verbal vorzuhalten, also musste er gestikulieren. Der Deutsche bekam dabei etwas auf den Kopf, fühlte sich sofort zusammengeschlagen und schrieb einen Beschwerdebrief. Daraufhin wurde Ivan als besonders aggressiver Krimineller eingestuft, ohne Freigang und ohne Hoffnung auf Bewährung. Der Tag seiner Entlassung sollte zugleich der Tag seiner Abschiebung sein. Deswegen durfte er auch nicht an der Berufsausbildung im Knast teilnehmen, nur ein bisschen Sprachunterricht und Sport standen ihm zu. Er hat in Tegel dann gut Deutsch gelernt, und das konnte nicht ohne Folgen bleiben. Ivan begann eine Affäre im Knast. Eines Tages rief er mich an.
›Ich habe dich noch nie um etwas gebeten. Sie hat morgen Geburtstag, kannst du ihr einen Blumenstrauß bringen?‹
Er hatte mir die Frau ziemlich undeutlich beschrieben, groß, hübsch, braune Haare... Am nächsten Tag nach der Arbeit kaufte ich einen Blumenstrauß und fuhr nach Tegel zum Knast. Ich hatte mir Ivans Braut die ganze Zeit als Gefangene vorgestellt, erst als sich das Tor hinter mir schloss, merkte ich, dass ich eigentlich in einem Männerknast war. Zwei Aufseher fragten mich, in welcher Angelegenheit ich gekommen wäre.
›Freunde aus Moskau haben mich angerufen, mit der Bitte, diesen Blumenstrauß Frau Müller zu übergeben. ‹
Ich zeigte auf die Blumen.
›Können Sie sich ausweisen?‹, fragten die beiden.
Sie nahmen meine Papiere und verschwanden in irgendeinem Korridor. Zwanzig Minuten, eine halbe Stunde waren vergangen, niemand kam. Nur ein diensthabender Polizist beobachtete mich aus seinem gepanzerten Glashäuschen. Ich hatte große Lust umzudrehen und nach Hause zu gehen. Die Papiere könnten sie mir dann später per Post nachschicken, überlegte ich. Doch das ging nicht, die Tür hinter mir war zu. Wo hast dich da schon wieder reingeritten?, beschimpfte ich mich. Vor einer Stunde warst du ein freier Mensch, jetzt bist du ein Knacki mit Blumenstrauß. Wie konnte das nur passieren? Eine Ewigkeit verging, bis die beiden Aufseher in Begleitung eines ranghohen Beamten zurückkamen.
›Blumen? Aus Moskau?‹, fragte er misstrauisch. ›Für Frau Müller? Sie wird sie nicht nehmen!‹
›Ist in Ordnung‹, sagte ich friedlich, ›das kann ich gut verstehen. Dann werfe ich diese Blumen einfach weg und fahre nach Hause, wenn Sie nichts dagegen haben.‹
›Nein, warten Sie hier‹, sagte der Beamte. Die drei verschwanden erneut. Ich stellte den Blumenstrauß in die Ecke. Der Aufseher, der von seinem Fensterchen aus, auf mich aufpasste, schüttelte kritisch den Kopf. Ich nahm den Blumenstrauß wieder in die Hand. Der Beamte kam nach einer Weile zurück. Er sah nachdenklich aus.
›Sie hatte heute bis 18.00 Uhr Schicht‹, sagte er, ›Sie hätten früher kommen sollen.‹ Er drückte auf einen Knopf, und die Tür hinter mir ging auf. ›Sie hätte sie aber bestimmt nicht genommen‹, fügte er zum Abschied hinzu.
Ich atmete aus. Ich hatte mich innerlich schon auf Schlimmeres vorbereitet. Ohne meine Freude über die Befreiung zu zeigen, ging ich langsam hinaus, setzte mich in den Wagen und gab Gas.
Ivan saß wie der Staatsfeind Nr. 1 seine drei Jahre ab, vom ersten bis zum letzten Tag ohne Freigang und ohne Bewährung. Am Tag seiner Entlassung wurde er abgeschoben. Ein Jahr später rief er mich aus Moskau an.
›Ich habe dich nie um etwas gebeten‹, sagte er, ›aber morgen hat sie Geburtstag.Würdest du ihr bitte einen Blumenstrauß vorbeibringen?‹
›Warum hast du nicht gesagt, dass sie eine Aufseherin ist?‹, fragte ich ihn.
›Was spielt das für eine Rolle?‹, entgegnete er.
›Nein Ivan, ich gehe nicht noch mal in den Knast‹, sagte ich.
›Musst du auch nicht‹, beruhigte mich mein Freund. ›Ihre Schicht ist um 18.00 Uhr zu Ende, sie fährt einen roten Passat.‹
Draußen schneite es ohne Ende. Mit einem solchen sibirischen Winter hatten die Berliner nicht gerechnet, und die Stadt war lahmgelegt. Überall Staus. Ich fuhr durch verschneite Straßen nach Tegel. Der Knast sah aus wie das Schloss der Schneekönigin. Ich parkte gegenüber vom Tor und beobachtete von dem warmen Wagen aus die Straße - mit einem Blumenstrauß auf den Knien. Nicht nur Frau Müller, das gesamte Personal schien um 18.00 Uhr Schichtwechsel zu haben. Alle drei Minuten sprangen aus dem Schneeberg vor dem Tor Autos auf die Straße, aber ein Passat war nicht dabei. Es ist viel Zeit vergangen, überlegte ich. Vielleicht hat sie den Wagen längst gewechselt. Vielleicht hat sie den Job gewechselt, vielleicht hat sie sich für heute krankgemeldet. Die Autoscheiben der vorbeifahrenden Autos waren zugefroren, man konnte das Geschlecht der Insassen nicht erkennen. Nach einer halben Stunde merkte ich außerdem, dass die Autos auch von der anderen Seite des Knastes losfuhren. Dort musste es also noch einen Ausgang geben.
›Pech gehabt, Ivan‹, dachte ich und startete den Motor. Just in diesem Augenblick fuhr ein roter Passat an mir vorbei und löste sich sofort im Dunkeln auf. Ich nahm die Verfolgung auf. Ivans Affäre fuhr nicht nach Berlin, sondern in die entgegengesetzte Richtung. Ich blinkte und hupte, alles umsonst, sie merkte nichts. Laut ihrem Kennzeichen konnten wir noch gut 300 Kilometer so weiterfahren, durch nächtliche Wälder und Dörfer, über verschneite Straßen. Ich gratulierte mir innerlich zu diesem Blödsinn. Anstatt zu Hause gemütlich vor dem Fernseher zu sitzen, verfolgte ich mit ungewissem Ziel einen roten Passat durch das ausgestorbene Brandenburg. Ich ging auf die Überholspur und blinkte noch einmal direkt vor ihrer Nase. Diesmal bemerkte sie mich. Wir hielten beide an. Ich stieg aus, klopfte an ihr Fenster, sie machte die Tür auf. Tatsächlich eine Frau, groß, brünett mit grünen Augen, so wie Ivan sie beschrieben hatte.