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»Wenn man Schicksal ist, Söhnchen, dann ruft man immer ein zweites Mal an«, meinte die Mutter philosophisch.

Iwan aus Nowosibirsk rief tatsächlich wieder an. Irina erklärte ihm, dass sie an dem Tag zu viel zu tun gehabt hätte, und sie verabredeten sich erneut. Diesmal ging sie tatsächlich zu ihrer Verabredung, kam dafür aber abends nicht nach Hause zurück. Auch am nächsten Tag kam sie nicht. Sergej meinte, so etwas sei auch schon früher in Gomel vorgekommen. Trotzdem waren er und wir alle sehr beunruhigt. Denn in gewisser Weise hatten wir seine Mutter in diesen Wirbel der Zeitungsliebe geschubst und fühlten uns nun für sie verantwortlich. Von Iwan aus Nowosibirsk fehlte jede Spur. Es gab weder eine Telefonnummer noch eine Adresse. Sergej ging zur Polizei und erstattete Vermisstenanzeige. In dem Moment, als er zurückkam, tauchte seine Mutter auf. Sie konnte unsere Aufregung überhaupt nicht verstehen und wollte nichts darüber erzählen, wo sie die letzten drei Tage verbracht hatte. Nur so vieclass="underline" Ihr Iwan hätte ihr alle seine Biathlon-Medaillen und -Pokale zeigen wollen, deswegen hätte es so lange gedauert. Insgesamt bezeichnete sie ihren neuen Freund als »zu sportlich«.

Danach meldeten sich in loser Folge ein intelligenter Professor aus Potsdam, der ihr die Stadt zeigen wollte und sie ins dortige Theater einlud; ein Hobbykoch aus Charlottenburg, der sie zum Grünen-Tee-Trinken überredete; außerdem in regelmäßigen Abständen immer wieder der sportliche Iwan aus Nowosibirsk, der mit Irina zur Biathlon-Meisterschaft ins norwegische Hammarskjöld aufbrechen wollte.

Der Klub der Mutterfreunde wuchs kontinuierlich, das Telefon in der Russen-WG war ständig belegt. Irgendwann meldete sich auch noch der verflossene Sparkassenchef aus der Heimat. Mit Tränen in der Stimme bat er Irina zurückzukommen, die ungeheure Leidenschaft mit der riesigen Oberweite hatte sich früher als erhofft erschöpft. Ihrem Sohn gegenüber hielt Irina ihre Lebenspläne geheim. Sie brauche Zeit zum Nachdenken, sagte sie nur. Nach einem Monat erzählte Sergej, seine Mutter wäre nach Russland zurückgefahren. Ich glaubte nicht daran.

Alles war möglich, alles zum Greifen nah: Möglich wäre zum Beispiel, dass sie gleich hinter Wannsee bei ihrem Professor ausgestiegen und in Potsdam hängengeblieben war. Weniger realistisch war, dass sie zu dem Sparkassenchef nach Gomel zurückkehrte. Ich, als alter Biathlonfan, tippte auf den sportlichen Iwan aus Nowosibirsk.

Noch Monate später bekamen die Jungs in der WG seltsame Anrufe: männliche Stimmen, die nach Irina verlangten.

»Sie wohnt nicht mehr hier«, antwortete Sergej. »Sie ist weg. Aber vielleicht kommt sie wieder - im nächsten Jahr. Lesen Sie die Annoncen. Ja, nein, Sie auch, nichts zu danken. Auf Wiedersehen.«

Ein ungewöhnliches Konzert  

Mein Nachbar Andrej hatte Besuch. Sein Vater war aus St. Petersburg angereist, um den Sohn zu kontrollieren. Ich staunte nicht schlecht, wie ein Vaterbesuch einen beinahe Dreißigjährigen dermaßen in Aufregung versetzen konnte. Andrej rasierte seinen coolen Dreitagebart ab, zog sich ein Hemd statt eines Pullovers an und hörte vorübergehend auf zu rauchen. Mich lud er zum gemeinsamen Abendessen mit Papa ein und schilderte kurz den Kreis der Themen, die in Anwesenheit des Vaters nicht erwähnt werden durften. Dazu gehörte Andrejs Privatleben, seine berufliche und finanzielle Situation, sein kaputtes Auto, seine alltäglichen Gewohnheiten sowie auch so ziemlich alles, was in irgendeiner Weise etwas mit ihm zu tun haben konnte.

»Worüber sollen wir denn stattdessen sprechen?«, wunderte ich mich.

»Frag ihn nach seinem Saxophon, alles andere ergibt sich von alleine«, meinte Andrej.

Ich dachte, sein Vater wäre Mathematiker von Beruf, ein Programmierer oder etwas Ähnliches. Ich hätte nie auf Musiker getippt, nie im Leben.

Das Abendessen verlief langweilig. Andrejs Vater sah mit seinen sechzig Jahren noch sehr frisch aus, vor allem aber seinem Sohn erstaunlich ähnlich. Er trug einen Dreitagebart, einen Pullover, trank Whisky aus einem großen Glas, schimpfte auf Deutschland und die Welt und benahm sich auch sonst wie sein Sohn, wenn er gerade keinen Vaterbesuch hatte. Die Flasche zwölf Jahre alten Bowmore hatte Andrej sehr preiswert bei einem Vietnamesen gekauft, der Whisky musste noch unter den Kommunisten gebrannt worden sein. Es war ein Experiment. Wir versuchten nach Möglichkeit, vorsichtig damit umzugehen, denn die Erinnerung an den mongolischen Whisky vom letzten Jahr war noch frisch.

Die Situation am Tisch eskalierte langsam. Aus Mangel an Themen fragte ich Andrejs Vater über seine musikalische Karriere aus. Er hatte anscheinend nichts Aufregendes zu berichten. Drei Jahrzehnte lang hatte er in einer ganzen Reihe von Popkollektiven, Gruppen und Bands gespielt, von denen wir nie etwas gehört hatten. Auch war er mit vielen berühmten Persönlichkeiten auf einer Bühne gestanden, die wir nicht kannten. Über zeitgenössische Musik schimpfte der Vater heftig, besonders Rapper schienen bei ihm in Missgunst gefallen zu sein. Sie waren seiner Meinung nach allesamt Pfeifen, die weder singen noch spielen konnten und diesen Mangel an musikalischem Talent mit Aggressivität und dummen Sprüchen kaschierten. Grundsätzlich mangele es der modernen Musik an Inspiration, klagte Andrejs Vater. Die jungen Musiker würden nur noch ans Geld denken, sie hätten nichts vorzuweisen außer dem Wunsch, schnell reich und berühmt zu werden. Doch der Ruhm halte heutzutage nicht länger als fünfzehn Sekunden, und wirklich reich werden nur die Manager, die sowieso immer alle Fäden in der Hand halten.

»Alles Arschlöcher!«, beendete Andrejs Vater seine Tirade, als würde er einen Toast ausbringen. »Was auch immer sie tun, der letzte wahre Rock’n’Roller wird John Lennon bleiben. Ich bin stolz, mit diesem Mann auf einer Bühne gestanden zu haben.«

Nach diesem Geständnis breitete sich Schweigen aus. Zu diesem Zeitpunkt hatten wir bereits zwei Flaschen Bowmore geleert und eine dritte angebrochen. Keine Überdosis also, die erwachsene Menschen auf eine Bühne mit John Lennon bringen konnte.

»Dieses ungewöhnliche Konzert war eine der eindringlichsten Erfahrungen in meiner beruflichen Karriere«, fuhr der Vater weiter fort.

»Du hast mir früher nie etwas davon erzählt, Papa«, mischte sich der Sohn ein. »Wer hat noch mitgespielt? Vielleicht Mick Jagger? Bob Dylan? Elvis Presley?«

»Arschloch!«, regte sich sein Papa auf. »Von solchen Arschlöchern wurde John Lennon ermordet. Er hatte eine sehr große Anziehungskraft auf die Menschen, und ich habe schon damals zu ihm gesagt, John, sie werden dich killen, wenn du so weiter machst. Ich sollte euch darüber lieber nichts erzählen. Ihr glaubt, ihr kennt alle Geschichten, weil ihr ein Mal im Leben ein dickes Buch gelesen habt. Aber die Geschichte lebt nicht in dicken Büchern, sie lebt in den Herzen und der Erinnerung der Menschen!«

Andrejs Vater trank seinen Whisky aus. Wir waren verwirrt. Alle Welt wusste doch, dass John Lennon nie in seinem Leben die Sowjetunion besucht hatte. Andrejs Vater hatte wiederum die Sowjetunion niemals verlassen, die beiden konnten also unmöglich gemeinsam auf der Bühne gestanden haben. Als wir ihn mit diesen Tatsachen konfrontierten, bekamen wir seine Version zu hören.

Andrejs Vater behauptete im Ernst, 1966 in der Hauptstadt der usbekischen Republik im dortigen Café Flamingo während einer Hochzeit mit John Lennon persönlich »All you need is love« gesungen zu haben. Anfang der Sechzigerjahre hatte er sein Studium als Klarinettist an der Musikakademie in St. Petersburg abgeschlossen und wurde für fünf Jahre nach Taschkent in die dortige Philharmonie abkommandiert. Er hatte da zehn Pflichtkonzerte im Monat abzuleisten, den Rest der Zeit versuchte Andrejs Vater seine Finanzen mit Restaurantauftritten aufzubessern. Mit drei Philharmonie-Kollegen gründete er eine Band und »hackte die Kohle«, wie es damals hieß, auf Hochzeiten, Geburtstagen oder einfach auf den bekannten Tanzflächen der usbekischen Hauptstadt. Unter anderem in dem seinerzeit berüchtigten Café Flamingo.