Da verlor Lussin die Nerven. »Eli, du machst uns zu Helfershelfern eines Verbrechens! Wenn du nicht einschreitest, tue ich es allein! Ich tu’s allein, ich rebelliere, Eli!«
Ich überlegte gerade so lange, daß die Henker keine Gelegenheit hatten, das dritte Opfer zu beseitigen.
Wir mußten den Ofen in die Luft jagen! Doch Oan kam meinem Befehl mit dem erschreckten Ausruf zuvor: »Vernichtet nicht das Schafott! Sonst gehen alle Aranen zugrunde!«
»Die Bewachung auseinanderjagen!« schrie ich, ohne zu fragen, warum man den Ofen nicht antasten dürfe, und stürzte auf den Obersten Beschleuniger des Endes zu.
Lussin war in seiner Wut sogleich zehn Sprünge vor mir. Er hieb auf das lebende Postament ein, und Uoch purzelte herunter. Lussin empfing ihn mit einer Ohrfeige, die so gewaltig war, daß sich der Große Verwirklicher mit grellem Piepsen erneut hochschwang. Ein gutes Dutzend Wachposten fiel über Lussin her. Hunderte von Blitzen bohrten sich in ihn, uns allen kam es so vor, als stehe er in Flammen. »Das Feld! Das Feld!« riefen Romero und ich.
Lussin, wie gelähmt durch die Wildheit des Überfalls, hörte uns und rief sein Feld.
Alles übrige spielte sich in Bruchteilen von Sekunden ab. Ich sitze in meinem Zimmer, und auf meinem Bildschirm gleiten die von den Stereokameras fixierten Bilder vorüber. Zum hundertsten Male betrachte ich sie, studiere sie eingehend, und jede Linie, jeder Lichtfleck bereitet mir unstillbaren Schmerz. Unsere Ingenieure verstanden zu unserem Unglück ihre Sache gut. Lussin drohte keine Gefahr, jetzt ist das klar.
Der Schutzanzug war zu stark für die Armhaare von Uochs Wache, und das herbeigerufene Schutzfeld wäre ein unüberwindlicher Schild gewesen. Ich begreife Lussin. Ich begreife mich, uns alle begreife ich. Wir griffen an, verteidigten uns aber nicht. Wir kannten nicht die physische Macht der Henker, wir sahen nur ihren Fanatismus und ihre Grausamkeit. Lussin konzentrierte das Feld, als kämpfte er wieder gegen Augenköpfige oder Unsichtbare oder als hätte ihn ein rauflustiger verrückter Engel überfallen. Romero oder ich, die wir ihm nachliefen, hätten ihn hindern können, die Kraftlinien in sich derart zu verdichten.
Wir taten es nicht. Und wir sahen, wie die Angreifer von Lussin geradezu explosionsartig hinweggefegt wurden. Nur einer behauptete sich wie durch ein Wunder, wahrscheinlich hatten sich seine biegsamen Armhaare derart mit dem Schutzanzug verhakt, daß man sie ihm allenfalls aus dem Kopf reißen, nicht aber von Lussin lösen könnte.
Lussin blieb sich auch in diesem schrecklichen Augenblick treu. Er hielt nicht inne, um kaltblütig um sich zu blicken, und er schwächte das Feld nicht langsam ab. Rings um ihn sanken die entsetzten Hüter zu Boden, im Tode funkelnd, mit gebrochenen Beinen, fehlenden Armhaaren, und er dachte an sie, nicht an sich. Deshalb schwächte er das Feld nicht allmählich ab, sondern entledigte sich seiner schlagartig, hackte es ab, damit es die Gegner nicht zerfetzte. Und sofort wurde er selbst ein Spielball in dem Chaos der wütenden Elemente, eine Flaumfeder inmitten unkontrollierbarer Zufälligkeiten!
Alles geschah in Bruchteilen von Sekunden.
Der Wachposten, der sich in Lussin verkrallt hatte, spürte, daß das Feld verschwunden war, und begann verzweifelt zu zerren. Doch er löste die verhedderten Armhaare nicht, sondern ließ sich fallen und zog Lussin mit sich. Sie hatten am Schafott gestanden und stürzten in seinen Rachen, genau in den Brennpunkt des Ofens, auf den die Mündungen der Elektroden unheilvoll zielten. Wieder zuckte ein Blitz, wieder schoß eine Flamme auf und erlosch sogleich, von dem wiedergekehrten Schutzfeld erstickt. Romero und ich, aber auch der Demiurg und der Galakt, die uns folgten, schleuderten unsere Felder, um Lussin zu helfen, doch es war schon zu spät. Lussin war nicht mehr. Es war eingetreten, wovor Oan gewarnt hatte. Das teuflische elektrische Schafott, der gräßliche Ofen, der die Verdammten unersättlich verschlungen hatte, war zersprungen.
Und in den Trümmern lag der von der ungeheuerlichen Entladung zerbrochene, halbverbrannte Schutzanzug mit dem toten Körper, Lussins entstelltem Körper.
»Der Planet ist verloren!« jammerte Oan. Meine Beine knickten ein. Grazi stützte mich. Mary schrie auf. Sie glaubte, ich sei wie Lussin ums Leben gekommen. Ich stöhnte vor Kummer und Wut.
Ich war bereit, alle auf dem Platz umherjagenden Aranen bis auf den letzten zu vernichten. Und bis heute begreife ich nicht, wo ich die Kraft hernahm, meinem Zorn zu einer so furchtbaren Tat nicht freien Lauf zu lassen.
»Die Grausamen Götter! Die Grausamen Götter sind herabgestiegen!« kreischten die flüchtenden Spinnen.
Ich warf den Schutzanzug ab. Es war mir unmöglich, noch länger die Gestalt eines Spinnenförmigen zu bewahren. Wie schneidender Schmerz hallte das verzweifelte Klang- und Lichtgeheul in mir: »Die Grausamen Götter sind herabgestiegen!«
Mary und Irina entledigten sich ebenfalls der widerwärtigen Kleidung. Sie bemühten sich um Lussin, Romero und Grazi halfen ihnen. Mir zitterten die Hände, die Beine, und ich ließ mich kraftlos niedersinken. Ich wollte sagen, man solle für Lussin ein Sanitärfeld herbeirufen, aber die Stimme gehorchte mir nicht, tonlos bewegte ich die Lippen.
Orlan kam zu mir, wie Grazi hatte er den Tarnanzug nicht abgelegt. »Ein entsetzliches Unglück, Eli, ich fühle zutiefst mit dir. Aber ein noch größeres Unglück kann geschehen. Bitte, höre auf Oan!«
Erst da wurde mir bewußt, daß Oan etwas sagte. »Was willst du?« fragte ich. »Was brauchst du?«
»Die Mutter Blitzspeicherin tobt«, drang wie aus großer Ferne seine Stimme zu mir. »Geht weg, geht weg, alle werden umkommen, und ihr mit uns, wenn ihr nicht geht!«
Seine Haare bäumten sich, wiesen, sich biegend, wie Dutzende von elastischen Armen nach Osten, von wo die Nacht heraufzog. Die Drei Staubigen Sonnen neigten sich, gestern um diese Zeit war tiefe Dunkelheit von jener Seite des Horizonts gekommen, von den finsteren Sternen, von den verfluchten Sternen dieser verfluchten kleinen Welt. Jetzt rückte von Osten der Morgen heran, nicht die Nacht. Feurige Wolken jagten dahin, Fetzen einer zuckenden Flamme, Gluthitze strömte von Osten. Mit jeder Faser, ohne Geräte, spürte ich die Verdichtung der elektrischen Entladungen, ich war gleichsam ein lebender Kondensator geworden, bis zum äußersten aufgeladen.
Ein elektrischer Sturm solcher Stärke kündigte sich an, wie ich noch nie einen erlebt hatte.
»Alle in ihre Schutzfelder!« Ich rief Kamagin. Es war ein großes Glück, daß sich die »Schlangenträger«, vom Geschwader getrennt, in der Nähe des Planeten befand. »Haben Sie gesehen, Eduard?« fragte ich. »Haben Sie gesehen?«
»Entsetzlich, Eli!« hörte ich Kamagins bekümmerten Ausruf. »Wir haben alles gesehen, Admiral. Leider konnten wir nicht helfen. Was ist zu tun?«
»Eduard, über dem Planeten wird in Kürze ein elektrischer Orkan toben. Ich vermute, daß die unglücklichen elektrischen Spinnen von der rasenden Mutter Blitzspeicherin, wie sie ihre Herrscherin nennen, in Stücke gerissen werden. Die Höhlen werden ihnen keinen Schutz bieten. Die Wut der Mutter hängt irgendwie mit der Zerstörung des elektrischen Schafotts zusammen. Gebt es ihr, Eduard, gebt es ihr gründlich! Zeigt allen bösen Müttern und Vätern, allen Grausamen Göttern und Teufeln, daß es noch die menschliche Macht auf der Welt gibt!«
»Ich verbürge mich dafür, daß die grimmige Mutter einen Denkzettel verpaßt bekommt!« versicherte Kamagin. »Heute wird sie nicht ihre Söhne ausrotten, sondern unsere Vorräte mit Aktivstoff auffüllen. Ihr Wüten soll einen Nutzeffekt haben!«
Der Sturm entlud sich kurz nach meinem Gespräch mit Kamagin. Unsere irdischen Gewitter sind Wolken und Regengüsse und Blitze. Das Gewitter auf Arania war ein Platzregen aus Blitzen, die die Erde peitschten, waren Geiser aus Blitzen, die aus der Erde aufschössen, Pfahlzäune von Blitzen auf den Hügeln, Dschungel von Blitzen in den Tälern. Von Regen, Donnergrollen und feuchter Kühle war keine Spur.