»Halt ein, halt ein, was für ein Unsinn!« unterbrach ich sie. »Weder der Steinerne Gast noch die Gespensterlords existieren real, du aber schreibst ihnen einen so hohen Prozentsatz Stofflichkeit zu. Die auf Bildschirmen physikalisch dargestellten Menschen dagegen sind bei dir gespensterhafter als die Gespenster. Das ist doch ungereimtes Zeug!«
»Das ist es nicht«, sagte Olga. »Die Stofflichkeit eines Trugbilds ist nicht nur physikalisch, sondern auch psychologisch zu verstehen. Sowohl die Gespenster der mittelalterlichen Schlösser als auch der Steinerne Gast und Hamlets Vater waren psychologisch derart glaubwürdig, daß allein dies ihre Nichtphysikalität sozusagen ausstach. Sind denn nicht Fälle bekannt, da Leute Brandblasen bekamen, wenn sie ein Stück kalten Eisens berührten, von dem sie glaubten, es glühe? Von den Filmhelden wußte man jedoch von vornherein, daß sie weiter nichts als optische Abbildungen, Illusionen wären.«
»Gut. Fahre fort, Olga. Was sagst du zu Oan?«
»Erst sage ich etwas über die Phantome der Zerstörer. Als Orlan in Gestalt eines Phantoms bei uns auf der ‚Bootes‘ erstand, besaß er mindestens fünfzig Prozent Stofflichkeit. Fünfzig Prozent Körperlichkeit waren überhaupt das Höchste, was die Zerstörer bei Phantomen leisteten, sie schufen zur Hälfte reale Erscheinungen. Die von André in der Schlacht auf dem Dritten Planeten erzeugten Phantome dagegen hatten weniger Körperlichkeit. André vermochte es den Zerstörern nicht gleichzutun, seine Schöpfungen brachten es mit Müh und Not auf zwanzig Prozent Stofflichkeit. Manche Gespenster in mittelalterlichen Schlössern…«
»Olga, mich interessieren nicht die zwanzigprozentigen Ladys, die mit wirren Haaren durch dunkle Korridore geistern! Ich frage nach Oan.«
»Auf ihn will ich gerade zu sprechen kommen. Ich bin nicht überzeugt, daß Oan ein Phantom ist. Aber wenn er eins ist, so liegt seine Stofflichkeit nicht unter achtzig Prozent. Er ist also fast ein vollwertiges Wesen.«
Olgas Berechnung bestätigte meine Befürchtungen.
Davon wurde meine Stimmung nicht besser.
»Komm«, sagte ich. »Man wartet schon auf uns.«
Oan kam in den Konservierungsraum gehüpft, hurtig, geschäftig, wohlwollend. Nur so bewegte er sich auf dem Schiff. Freundlich winkte er mit den Armhaaren. Ich wurde die Empfindung nicht los, als sei er nicht wirklich anwesend, als trage er eine Maske, als sei er kein reales Wesen, sondern ein Trugbild, maximal mit Stofflichkeit ausgestattet. In Gedanken wies ich mich zurecht. Oans Seltsamkeit war Artmerkmal der Aranen, in deren Maske er auftrat. Sein Geheimnis bestand nicht in der äußeren Gestalt, es lag tiefer und war bedrohlicher; wir durften uns nicht bei der malerischen Oberfläche aufhalten, sondern mußten in die unheilvolle Tiefe vordringen.
»Oan, unser Geschwader ist zu zwei Dritteln vernichtet«, sagte ich, »unsere Kameraden sind umgekommen. Weißt du etwas über den verfluchten Strahl, der so plötzlich in die ,Stier‘ gefahren ist? Woher kommt er? Welcher Art ist er?«
Während ich sprach, stellte ich voller Genugtuung fest, daß Oan überrascht, beinahe verwirrt war. Offenbar verblüffte ihn, daß er heute Mühe hatte, unsere Gedanken zu lesen. Und seine Antworten erklangen weniger deutlich als sonst in uns. Das von Ellon verursachte elektrische Durcheinander störte in gewissem Maße auch uns selbst.
Selbstverständlich wußte er nichts über den Strahl.
In ihrem Sternhaufen habe man solche Erscheinungen nie beobachtet – zumindest seit der Zeit nicht, da die Aranen auf kosmische Flüge verzichteten. Die Überlieferungen enthielten ebenfalls keinen Hinweis.
»Die Natur des Strahls mag dir unbekannt sein, aber du weißt vielleicht, durch wen er generiert wurde und warum er sich ausgerechnet ins Sternenflugzeug bohrte!« Darauf hatte Oan die Standardantwort:
»Ihr habt die Grausamen Götter erzürnt. Die Götter haben euch streng bestraft.«
»Bestraft? Warum eigentlich? Wodurch haben wir eure rachsüchtigen Götter erzürnt?«
»Nicht rachsüchtig – streng, Eli.«
Oans Richtigstellung erklang in jedem von uns auf die gleiche Weise. Wir trugen, auf meine Bitte, Dechiffriergeräte am Arm, die aufzeichneten, was Oan uns übermittelte. Später verglichen wir. Oans Antworten unterschieden sich nur im Ausdruck, diese Frage aber hatte er einheitlich für alle beantwortet.
»Nun gut, der strengen, nicht der rachsüchtigen.
Meerrettich ist nicht süßer als Rettich. Schau nicht so erstaunt, Oan, das ist ein Sprichwort von uns Menschen. Erkläre uns nun etwas anderes. Unsere Denkmaschinen sind durch unbekannte Kräfte blockiert.
Auf der , Rammbock‘ war das logische Operationsschema gestört…«
»Das Schema des zeitlichen Zusammenhangs«, unterbrach er. »Ich habe euch bereits gesagt: Die Maschine hat Zeitkrebs.«
»Ja, das hast du gesagt. Sagen bedeutet nicht erklären. Sprechen wir von der kranken Zeit, Oan. Da ist etwas, was wir nicht verstehen. Wie ist es zu der kranken Zeit in eurem Sternbild der Untergehenden Welten gekommen?«
»Die Tätigkeit der Grausamen Götter hat dazu geführt.«
»Mächtig tatkräftig sind sie, wenn sie den Lauf der Zeit ändern können. So weit sind wir noch nicht. Wir sind ja auch keine Götter. Aber worin äußert sich ihre Tätigkeit? Kannst du uns das sagen?«
»Ich weiß es nicht.«
»Wie solltest du auch! Woher soll ein Arane wissen, was die Götter machen, zudem noch so strenge!
Denn sie beraten sich ja nicht mit euch, nicht wahr, Oan? Kehren wir zu der Frage nach der Zeit zurück.
Kranke Zeit, mürbe Zeit, geborstene Zeit, das sind doch Allegorien für eine irgendwie veränderte Zeit, nicht wahr? Warum mußtest du mit deinen Kameraden den unendlich gefährlichen Versuch unternehmen, zur Oberfläche eines implodierenden Sterns vorzudringen, um in den Strom seiner veränderten Zeit zu tauchen, wenn es hier, in eurem untergehenden Sternbild, mehr als genug Beispiele für beliebige Zeitveränderung gibt? Du hast doch auch gesagt, Oan, daß der Zeitkrebs eine Geißel der hiesigen Örtlichkeiten sei!«
»Du verwechselst die kranke Zeit mit der transformierten. Wir haben eine geborstene, bröcklige Zeit, sie läßt sich schlecht benutzen. Doch ein Kollapsar hat eine komprimierte Zeit, sie ist eine Feder, kein Lumpen. Gelänge es, sich ihrer zu bemächtigen, könnte man beliebige Planeten und ganze Sternbilder, die in einer erschlafften Zeit untergehen, in die Zukunft, in die Vergangenheit, ins seitliche ,Jetzt‘ verlagern.«
Da begriff ich, daß ich ihn ertappt hatte. Ich blickte zu Ellon hinüber. Der hob kaum merklich die Hand, er war bereit. Oan erkannte, daß er entdeckt war. Die beiden unteren Augen leuchteten wie vorher freundlich und gutmütig, beinahe servil. Das stechende jedoch verriet uns Oans Zustand. Das war ein wahrhaft böses Auge!
»Früher sagtest du, daß ihr, du und deine Kameraden, Flüchtlinge wäret«, konstatierte ich gelassen.
»Nun stellt sich heraus, daß ihr Experimentatoren wart. Es ging euch weniger um Flucht als vielmehr darum, jene Krümmung des Zeitstromes, durch die man fliehen kann, im Prinzip in eure Gewalt zu bekommen. Schätze ich eure Aktionen richtig ein, Oan?«
Er versuchte sein Gesicht zu wahren. »Richtig.
Man gelangt in die Zukunft, wenn man den natürlichen Zeitverlauf umgeht. Wir prüften, ob man auch in die Vergangenheit gleiten könne. Im geraden Zeitverlauf ist sie unerreichbar, weil sie unwiederbringlich ist. Die Zukunft ist wie durch eine sehr niedrige Decke begrenzt, die reale Gegenwart. Die Vergangenheit durch einen undurchdringlichen Fußboden, ebenfalls die reale Gegenwart. Ihr entschlüpft man nur, wenn man die Zeit umgeht, nicht, wenn man ihrem geraden Lauf folgt. Da bleiben wir immer im Jetzt’. Eben diese ,Umleitungen‘ aus der Gegenwart in die Zukunft und die Vergangenheit suchten wir. Nur in den Kollapsaren verwirklichen sie sich. Sie sind die besten natürlichen Öfen zur Aufheizung und Krümmung der Zeit.«