Am Abend schaute Romero bei Mary und mir herein. Er fühlte sich nicht besser als die anderen. Er sagte, der Zeitriß habe nur Mizar nichts ausgemacht, der Hund Sei munter und guter Dinge. Gig habe ebenfalls nicht gelitten, doch Trub sei erkrankt. Romero nannte den Vorfall ein Drama im alten Stil. Die Schriftsteller früherer Zeiten hätten gern das Grauen ausgemalt, das eine Störung im Zeitverlauf mit sich brächte. Er nannte viele Namen, von denen ich mir Hamlet, Ahasver, Melmoth und einen gewissen Yankee bei König Artus gemerkt habe. Romeros historische Untersuchung berührte mich wenig. Ein Riß der psychologischen Zeit, und nur darum handelte es sich bei den Alten, führte zu seelischen Qualen. Wir dagegen hatten es mit einer physikalischen Zeithavarie zu tun, und davon knackten unsere Knochen und ächzte der superfeste Schiffsrumpf. Diesen wesentlichen Unterschied unterschätzte Romero.
»Warum bist du so düster?« fragte Mary, als sich Romero, den Spazierstock sanft aufsetzend, entfernt hatte. »Es ist doch alles gut gegangen.«
»Nur der Anfang ist gut gegangen«, antwortete ich.
»Wie wird die Fortsetzung sein?«
Der nächste Tag brachte nichts Neues. Und noch ein paar Tage lang ereignete sich nichts, will man das Schauspiel der ungeordnet umherfliegenden Gestirne nicht als Ereignis betrachten. Doch dann erschallten wieder die Signale für höchste Alarmstufe, und jeder eilte an seinen Gefechtsposten. Die Bildschirme zeigten das bekannte Bild: Ein Sternenschwarm ringsum, und alle Sterne fielen auf uns herab. Oshima rief erschreckt, dies sei der Sternenschwarm von neulich.
Oleg forderte von der Stimme Auskünfte an. Sie übermittelte, daß dies tatsächlich die Sternenumgebung sei, in der wir uns schon einmal aufgehalten hatten.
»Wir jagen in unsere Vergangenheit!« Oleg starrte auf die Erbsen, die sich rasch zu Sonnen auswuchsen.
»Wir jagen in unsere Zukunft«, korrigierte Olga.
»Alles, was uns bevorsteht, ist Zukunft. Aber diese uns bevorstehende Zukunft war schon in der Vergangenheit.«
Ich schaute von ihr zu Oleg, von Oleg zu Oshima.
Ich wußte nicht mehr, wo mir der Kopf stand. Ein Flug in die Zukunft, die Vergangenheit war, konnte nur bedeuten, daß wir in eine Zeitkrümmung geraten waren, wo es weder Anfang noch Ende gibt und wo jeder Augenblick zugleich auch Vergangenheit und Zukunft ist. Bisher hatten solche Situationen nur als Thema für phantastische Romane gedient, niemand hätte vermutet, daß ein Zeitwirbel in der realen Natur zutage treten könne.
»Wir befinden uns in einem Zeitring, Oleg«, sagte ich. »Und zieht man in Betracht, daß die Vergangenheit sehr schnell kam, so ist der Durchmesser des Ringes nicht groß. Wir werden uns nun unaufhörlich in einem geschlossenen Kreis bewegen, uns nachjagen wie ein Hund seinem Schwanz. Deine Pläne, Oleg?«
Oleg erbleichte noch mehr, verlor aber seine Entschlossenheit nicht. »Wir wollen uns bemühen, nicht in die Zukunft zu geraten, die unsere Vergangenheit ist. Ellon, halte dich bereit, die Metrikgeneratoren einzuschalten! Stimme, erteile das Kommando zum Einschalten, bevor die Zeit abermals reißt!«
Nun konnten wir nur abwarten. Erneut funkelten auf den Bildschirmen die hundert größer werdenden grellen Sonnen. Erneut lösten sich die beiden tollwütigen Gestirne aus dem Schwärm und rasten aufeinander zu. Ich duckte mich, machte mich auf einen neuen Schlag auf Nerven und Gewebe gefaßt, den ich diesmal vielleicht nicht überstehen würde. Aber die aufeinander zu fliegenden Sonnen verblaßten und gingen unter. Und dann gab es keinen kompakten Sternenschwarm mehr, es gab wie vorher einen Wirrwarr der Sterne, ein Gedränge und Geschiebe, das etwas nur dichter und chaotischer war. Aus dem gefährlichen Raum zwischen den zusammenstoßenden Gestirnen waren wir ins normale Sternengetümmel des Kerns entschlüpft.
»Es erweist sich, daß der Zeitriß nicht einfach ein Riß war«, sagte Olga erleichtert. »Er bedeutete, daß wir in die Vergangenheit versetzt wurden. Denn nur aus der Vergangenheit konnten wir in die Zukunft fliegen, die schon gewesen ist.«
Ich leitete ihren Gedanken an die Stimme weiter.
Sie hatte den Zeitriß entdeckt. Mochten sie nach Herzenslust miteinander streiten und zu wichtigen Schlüssen gelangen. Olgas Denken beruhte zwar auf Erwägungen, das der Stimme auf fertigen Resultaten, aber zur Wahrheit konnten sie auch auf verschiedenen Wegen gelangen. Mich beunruhigte mehr, daß unsere Fahrt in der Gravitationsschnecke nicht aus dem Kern hinaus, sondern in seine Tiefe führte.
8
Trubs Zustand hatte sich verschlechtert. Mary und ich besuchten den alten Engel. Er lag auf einem weichen Sofa. Sein runzliges Gesicht war so grau wie der Backenbart. Seiner Gewohnheit nach kämmte er ihn mit den gebogenen Krallen, aber so langsam, so schwach, daß Mary die Tränen kamen. Es wurde klar, daß seine Tage gezählt waren. Er wußte, daß er bald sterben würde, und er hatte keine Angst davor. »Eli, der Zeitriß ist nichts für mich«, flüsterte er traurig.
»Die Engel können nicht zugleich in verschiedenen Zeiten leben. Du weißt, Admiral, wir haben einen verteufelt starken Organismus, wir ertragen jede physische Belastung. Aber die Verschiedenzeitigkeit ist uns schädlich. Wir sind prinzipielle Gleichzeitler. Alles andere ist eine Katastrophe für uns. Lussin hätte solch eine Zeitverdrehung ebenfalls nicht vertragen.
Davon bin ich überzeugt.«
Mary tröstete Trub. Ich konnte es nicht. Frauen, das wurde des öfteren bemerkt, lehnen sich gegen offensichtlichste Offensichtlichkeiten auf, wenn sie ihrem Gefühl zuwider sind. Schweigend hörte ich mir an, wie sie dem Engel einredete, er werde sich wieder erholen, die Behandlung sei ja noch nicht abgeschlossen, und wenn es soweit sei, werde er sich vom Krankenlager nicht einfach erheben, sondern sofort aufschwingen.
Vielleicht glaubte sie ihre Beteuerungen selbst. Trub glaubte nicht daran, aber er betrachtete sie dankbar. Romero trat ein und fragte mich flüsternd, woran ich denke. Ich überlegte gerade, daß sich der Zeitriß auf tote Gegenstände fast gar nicht ausgewirkt hatte, während er bei allen Lebewesen, außer Mizar, schwere Erschütterungen hervorrief. Romero streichelte Mizar, der sich vor ihm hingelegt hatte. Der kluge Hund ließ Trub nicht aus den Augen.
Er hörte, was ich über ihn sagte, ließ es sich aber nicht anmerken. Obwohl er dank Lussins Bemühungen die Menschensprache vortrefflich verstand, sofern wir uns nicht im Abstrakten verloren, mischte er sich aus hündischem Zartgefühl nie in Gespräche ein.
»Sie haben auf eine wichtige Tatsache verwiesen, Eli«, sagte Romero. »Wahrscheinlich war die Phasenverschiebung der Zeit oder ihr Riß, wie die Stimme meint, in unserer kleinen Schiffswelt so winzig, daß die Gegenstände darauf nicht reagieren konnten. In einer Periode von ein, zwei Sekunden ändert sich ja praktisch nichts in der Welt der Sachen. Aber für eine lebende Zelle, eine Nervenzelle zumal, kommt sekundenlange Nichtexistenz einem winzigen Tod gleich.
Wir werden dieser Tatsache künftig Rechnung tragen müssen.«
»Am schlimmsten ist es Trub ergangen.« Genau wie Romero sprach ich fast flüsternd. »Der Schlag auf die Nervenzellen hat zu einer schweren Krankheit geführt – so erkläre ich mir seinen Zustand. Die seelischen Leiden haben körperliche Qualen hervorgerufen.« »Trub scheint sich besser zu fühlen«, sagte Romero erfreut. »Schauen Sie, Eli, er bewegt sich!«
Aber das war keine Belebung, sondern Agonie.
Trubs Körper wurde von einem Krampf zusammengezogen. Er richtete sich auf, schlug schwerfällig mit den Flügeln, wandte mir das Gesicht zu, versuchte verzweifelt, etwas zu sagen, aber statt Worten brach ein undefinierbares Geschrei aus seiner Kehle. Ich ließ mich an seinem Lager auf die Knie nieder, drückte den Kopf an seine große behaarte Brust, hörte, wie dumpf und ungleichmäßig sein Herz schlug, wie die Schläge schwächer wurden und es bei einem kaum wahrnehmbaren Schlag plötzlich verstummte. Der Körper des Alten zuckte noch, regte sich, erstarrte allmählich und streckte sich. Die Flügel sanken kraftlos herab. Trub war nicht mehr.