»Aus, Mary!« sagte ich und erhob mich. »Aus, aus! Noch ein Freund ist von uns gegangen. Wer ist an der Reihe?«
Mary weinte, Romero stand schweigend am Lager, Tränen rannen ihm über die Wangen. Traurigzärtlich erkannte ich plötzlich, daß er seinen unvermeidlichen Spazierstock jetzt nicht mehr brauchte, um die Alten nachzuahmen, sondern um nicht zu taumeln.
Ein neuer Sarkophag fand seinen Platz im Konservierungsraum. In dieser Nacht schlief ich nicht und auch nicht in den nächsten Nächten. An sich ist eine solche Bagatelle nicht der Rede wert. Romero sagt, in alten Zeiten sei die Schlaflosigkeit eine weitverbreitete Krankheit gewesen, und die Leute hätten manche Arznei geschluckt, um sie zu bekämpfen. Aber was hat es nicht alles für Krankheiten im Altertum gegeben! Sie gehören zu den Vermächtnissen unserer Vorfahren, die wir nicht in unser Jahrhundert übernommen haben. Es ist mir stets ungeheuerlich erschienen, daß die Menschen nicht schlafen konnten, wenn sie schlafen sollten, mehr noch, wenn sie schlafen wollten. Ich verweile nicht bei meiner Schlaflosigkeit, um auszumalen, wie ich litt. Ich habe Weras und Asters Tod ertragen, Allans, Leonids und Lussins, das waren keine geringeren Verluste als Trabs Wechsel ins Nichtsein. Ich fand keinen Schlaf, weil ich meiner Gedanken nicht Herr wurde. In den Stunden, da ich Dienst tat und mich mit anderen traf, störte mich zuviel, als daß ich mich hätte konzentrieren können. Ich vermochte nicht, wie Olga mit der Schiffsmaschine, zu arbeiten und alles andere und alle anderen zu vergessen, zudem ist die Schiffsmaschine für mich nur ein Auskunfts- und Beratungsorgan, kein herzlicher Partner. Zum Nachdenken brauche ich Einsamkeit.
Und ich stand auf, wenn Mary schlief, ging in mein Zimmer und schaute auf den kleinen Sternenbildschirm, er zeigte immer dieselbe unheimliche Landschaft der teuflisch aufeinanderfliegenden Gestirne, einen wilden Sternensturm, eine Sternenexplosion, wie sie vor Zeiten das ganze Weltall erschüttert hatte und seitdem unaufhörlich fortdauerte. Und ich überlegte, was dieses Sternenchaos bedeuten könne, dieser ungeheure Mangel selbst einer Andeutung von Ordnung, von einer majestätischen Harmonie der Sternensphären ganz zu schweigen. Olga hatte den Satz geäußert: »Der Kern siedet!« Ihre Worte gingen mir nicht aus dem Kopf. Was zwang den Kern, zu sieden und die Sterne wie Spritzer zu verschleudern? Was für eine furchtbare Überhitzung war erforderlich, um die gigantischen Gestirne wie die Moleküle in einem Autoklav schwirren zu lassen? Änderte ein Überhitzen des Kerns nicht die Eigenschaften des Raums? Der Raum war etwas, wovon wir noch wenig wußten. Er war kein leerer Behälter für materielle Dinge, denn er verwandelte sich in Materie, und Materie wurde Raum. Was hatten wir noch von ihm entdeckt außer dieser simplen Wahrheit? Der Raum war das geheimnisvollste Geheimnis der Natur, das rätselhafteste Rätsel. Und die Zeit? War hier nicht auch die Zeit überhitzt? Wir hatten uns an die ruhige, einförmige, gleichmäßige Zeit unserer ruhigen, ausgeglichenen Sternenperipherie gewöhnt, was wußten wir davon, wie sie noch sein konnte? Vermochte sich jemand, der den Ozean bei Windstille gesehen hatte, vorzustellen, wie er bei Sturm war? »Hier ist die Zeit bröcklig, sie reißt, hier ist die Zeit krank, sie hat Krebs!« Hatte das nicht der Verräter Oan hartnäckig behauptet? War das eine leere Drohung oder eine Warnung gewesen?
Und hatte sich seine Drohung nicht bewahrheitet, wenn es eine Drohung gewesen war? Die Zeit riß, die Vergangenheit schloß sich nicht mittels der Gegenwart an die Zukunft an, jede Zelle unseres Körpers schrie davon! Der arme Trub war dem Zeitriß zum Opfer gefallen! Und wäre die Zeit nicht gerissen?
Dann wären wir alle einer Katastrophe zum Opfer gefallen, die Sternenflugzeuge und auch die Sterne. Was für eine gigantische Explosion hätte den Kern erschüttert, wären in ihm diese Hunderte von Gestirnen geborsten! Im Kern gab es Milliarden davon, aber versetzt nicht eine Tonne atomaren Sprengstoffs Milliarden Tonnen schwere Berge?
»Warte!« sagte ich zu mir. »Warte, Eli! Das ist doch offensichtlich, davon zeugen unsere Schiffsmaschinen, der Zeitriß hat die Explosion von reichlich hundert Gestirnen verhütet! Ist die ,Zeitkrankheit‘ vielleicht eine besondere Form der Kernbeständigkeit? Wenn Atom gegen Atom fliegt, Molekül gegen Molekül, bewahrt die elektrische Abstoßung sie vor ständigen Zusammenstößen, schleudert die elektrische Unvereinbarkeit sie zurück. Dank diesem existieren wir, die Gegenstände, die Organismen, die Kunstwerke. Die winzigen Kerne unserer Atome können nicht frontal zusammenstoßen. Und hier, in diesem großen Kern? Hier gibt es keine elektrischen Kräfte, die imstande wären, die Sterne voneinander wegzuschleudern. Dafür gibt es die Newtonsche Anziehung, von der sie chaotisch, wild aufeinander zugestoßen werden. Ach, Newton, Newton, du alter Weiser, du hast da den unvermeidlichen Untergang für das ganze Weltall projektiert! Und es geht nur deshalb nicht unter, weil ein neues, uns noch unbekanntes Gesetz wirksam ist, das mächtiger ist als deine Gravitation, als die elektrische Anziehung und Abstoßung, sogar stärker als die Metrikkrümmung der Demiurgen, die Krümmung und der Riß der Zeit! Das ist die Garantie für die Beständigkeit des Kerns! Die Beweglichkeit deiner Zeit, Kern, rettet die ganze Welt. Nein, das ist keine Krankheit, das ist ein gewaltiger physikalischer Prozeß, wir wußten davon einfach noch nichts. Jetzt wissen wir: die Disharmonie der Zeit gewährleistet die Beständigkeit des Kerns! Die Unvereinbarkeit der Gleichzeitigkeit, die wechselseitige Abstoßung der Zeit! Aber Trub hat recht – das ist nichts für uns, das ist entschieden nichts für uns!«
So überlegte ich, bald logisch, bald wirr. Mal baute ich kaltblütig eine Kette von Ursachen und Folgen, mal lehnte ich mich leidenschaftlich dagegen auf. Und in mir reifte die Überzeugung, daß wir uns so schnell wie möglich aus dem Kern davonscheren mußten, bevor wir umkamen. Ja, richtig, die meisten Sterne der Galaxis sind im Kern konzentriert. Aber Leben ist hier unmöglich. Leben ist eine Erscheinung der Peripherie. Wir können das jetzt bestätigen! »Nein!« antwortet uns der Kern, und das klingt überzeugend. Na wennschon! Dieses »Nein« ist ein wertvolles Resultat der Expedition, wir hatten ja nicht erwartet, daß uns überall nur »Ja, ja, ja« empfangen werde. Das Verbot, ins höllische Feuer vorzudringen, ist eine nicht weniger wichtige Entdeckung, als es die Einladung gewesen wäre, in einem neuentdeckten Paradies zu herrschen. Wir hatten die Grenzen für die Existenz von Leben erkannt. Es war Zeit, aus der Sternenhölle zu verschwinden! Höchste Zeit!
Mit genau diesen Worten brachte ich auf der nächsten Beratung der Kapitäne den Vorschlag ein, die Expedition zum Kern zu beenden.
Wir begannen uns auf die Rückkehr in die heimatlichen Sternengefilde vorzubereiten.
9
In einem waren wir alle einer Meinung: Der Galaxiskern war ein gigantischer Höllenofen, ein Höllenfeuer von Materie, Raum und Zeit. Fast ohne Einwände wurde auch meine Hypothese akzeptiert, daß der Riß der Zeit die Beständigkeit des Kerns garantiere, daß die Harmonie des Kerns darin beruhe, daß sich die Gleichzeitigkeiten wechselseitig abstießen!
Allein Romero war sich nicht schlüssig. »Oh, ich verstehe, lieber Admiral, daß Sie die Paradoxe des Kerns anders nicht erklären könnten«, sagte er.
»Wenn zwei Lösungen eines beliebigen Rätsels angeboten werden, die eine trivial, die andere seltsam, so wählen Sie unweigerlich die zweite. So ist eben Ihre Natur. Sie wundern sich, wenn es nichts zu wundern gibt.«