Mühsam erhob ich mich. Oshima stützte mich besorgt. Sein Wahnsinn hatte sich verflüchtigt.
»Es ist alles in Ordnung, Kapitän Oshima«, sagte ich. »Kommen Sie in den Kommandeursaal.«
Im Sessel des Schiffskommandeurs saß Kamagin.
Oleg ging unruhig auf und ab. Verstohlen beobachtete ich den kleinen Kosmonauten. Eduard arbeitete flink und exakt. Und obwohl es keine Schiffsmaschine gab und er alle Befehle an die Vollzugsmechanismen nur über die Stimme erteilen konnte und er nur durch sie die Informationen des Analysators erhielt, betrug er sich, als sei die Schiffslenkung nicht gestört.
Auf dem Bildschirm siedete nach wie vor der Kern, schoß mit Sternen, aber in dem wilden Chaos der einander ereilenden Gestirne lenkte Kamagin das Sternenflugzeug mit der Sicherheit eines Seemanns, der sein Schiff in den Sturm führt. Und ich dachte, wenn Kamagin in den Vergangenheitswahnsinn fällt, so ist das für uns die ungefährlichste Art, weil er auch in der fernen Vergangenheit ein mutiger galaktischer Kapitän war, vielleicht der Geschickteste von uns, weil er in einer Epoche Schiffe führte, als die Schiffsmaschine noch nicht einmal projektiert war, beinahe hätte ich den altertümlichen Ausdruck gebraucht: als daran noch nicht zu denken war. Und selbst wenn die Stimme umkäme, wäre das, was wir als furchtbare Katastrophe auffassen würden, für ihn nur eine Rückkehr zu der von ihm beherrschten Schiffsführung per Hand. Erleichtert dachte ich, daß ich nur von solchem Wahnsinn sagen könnte, er sei zulässig.
Oshima setzte sich neben Kamagin.
Halblaut sagte ich zu Oleg: »Hattest du Oshimas Zustand bemerkt?«
»Oshima fühlte sich schlecht«, antwortete Oleg, »deshalb erlaubte ich ihm, sich zu entfernen.«
»Und ich habe ihn zurückgebracht. Ich fürchte, Nachsicht verstärkt den Wahnsinn nur. Ich habe in Oshimas Kopf ein bißchen aufgeräumt, wer weiß, ob das lange vorhält.«
»Jedenfalls kann man ihm ohne Sicherungsmaßnahmen das Kommando über das Sternenflugzeug nicht mehr übertragen«, sagte Oleg, und ich pflichtete ihm bei.
Als ich den Kommandeursaal verlassen wollte, begann Oshima laut zu schluchzen. Oleg und ich traten zu ihm. Oshima jammerte: »Es hat kein Mädchen Frühling gegeben. Es hat keine mit Lianengirlanden umwundene O’Harusan mit Sakura-Blüten im Haar gegeben! O du Frühling meiner Seele, duftende O’Harusan! Und ich muß das erleben, du feueräugige O’Harusan, daß es dich nicht gibt und niemals geben wird!«
»Ich würde ihn doch ins Hospital schicken, Eli«, sagte Oleg.
»Und wer soll ihn dort pflegen? Genau solche Wahnsinnigen? Und außerdem geht es ihm schon besser, scheint mir. Vorhin lief er, um O’Harusan zu suchen, jetzt verabschiedet er sich von ihr. Das ist günstig.«
Wie zur Bestätigung meiner Worte holte Oshima ein Tuch hervor, wischte sich das tränenüberströmte Gesicht, schneuzte sich, zupfte sich die Uniform zurecht und sagte mit fast normaler Stimme zu Oleg:
»Admiral, dem Kapitän Oshima ist ein bißchen schwindlig. Ich habe den Dienst Kapitän Kamagin übertragen. Ich halte einstweilen ein Nickerchen im Sessel, Admiral.«
Er schloß die Augen und schlief unverzüglich ein.
Sein Gesicht gewann allmählich die gewohnten markanten energischen Züge wieder. Oleg und ich traten leise zurück. Oleg blieb im Kommandeursaal, ich begab mich ins Laboratorium. Hier wurde der Zeitstabilisator montiert. Ellons schrille Stimme schallte durch den Raum.
Demiurgen und Menschen beeilten sich, seine Befehle auszuführen. Abseits schritt Orlan zwischen Wand und Wand auf und ab. Rings um ihn hatte sich, ich bemerkte das sofort, Leere ausgebreitet. Niemand wagte es, die unsichtbare Grenze zu verletzen, die Orlan von den anderen trennte. Noch wenige Tage zuvor wäre ein solches Bild undenkbar gewesen. Orlan hatte sich stets bemüht, nicht aufzufallen, im Hintergrund zu bleiben. Um Ellon nicht zu stören, schlug ich einen Bogen um den Stabilisator und näherte mich Orlan.
»Grüß dich, Freund Orlan!« Ich versuchte, meinen Gruß herzlich, nicht aber geschraubt klingen zu lassen. »Gibt’s Erfolg mit dem Zeitstabilisator?«
Orlan blickte mich hochmütig an: »Seltsame Frage, Admiral Eli! Hörtest du nicht, daß der Demiurg Ellon versprach, den Schiffszeitstabilisator heute in Gang zu setzen?«
Ich murmelte verlegen: »Doch, Orlan. Ellon versprach dir…«
»Oder meinst du, Ellon würde es wagen, mich zu täuschen? Täuschungen sind bei den Demiurgen unmöglich. Sei unbesorgt. Der Tag hat erst begonnen, Admiral Eli.«
Er war ebenfalls wahnsinnig geworden. Alle auf dem Schiff waren wahnsinnig geworden. Das von den Geräten nicht festzustellende Vibrieren der Zeit zwischen Vergangenheit und Zukunft hatte die Psyche gespalten. Im Bewußtsein speicherte sich die wieder aufgelebte Vergangenheit, verdichtete sich die noch nicht erreichte Zukunft. In der gespaltenen Seele überwog die Vergangenheit. Sie war besser bekannt und wirkte näher. Nur Olga war in die Zukunft entwichen. Die anderen waren in die Vergangenheit gefallen.
Und als ich schweigend den hochmütig hin und her flatternden Orlan anschaute, sah ich plötzlich deutlich, wie er gewesen war, als wir ihn noch nicht zu unseren Freunden zählten, und wie sich seine Untergebenen, seine Lakaien, seine Sklaven, ihm gegenüber verhalten hatten. Grausame Subordination, unerbittliche Subordination, schon der Gedanke an Ungehorsam, das geheime Verlangen nach Freiheit waren ein schweres Verbrechen gewesen! Ja, selbstverständlich, Orlan ist nicht schuld, daß sich sein Bewußtsein mehr und mehr in der Vergangenheit verstrickt, dachte ich, das ist sein Unglück, nicht seine Schuld. Und in unserer heutigen verzweifelten Lage sind seine unbarmherzige Hartnäckigkeit und seine Herrschsucht kein Hemmnis, sondern helfen uns freizukommen. Unter außergewöhnlichen Umständen eignen sich nur außergewöhnliche Maßnahmen. Aber wenn wir uns retten und er der alte bleibt? Wie können wir uns mit einem solchen Despoten und Würdenträger abfinden? Mir war, als verlöre ich einen Freund, einen lieben Freund, einen meiner vertrautesten Freunde.
Ich murmelte: »So wird man über kurz oder lang vom bloßen Anblick des Wahnsinns wahnsinnig.«
Orlan blieb vor mir stehen. »Was hast du gesagt?
Wiederhole es!«
»Ich habe es vergessen, Orlan«, antwortete ich und ging in meine Wohnung.
Mary schlief und lächelte im Schlaf. Ich betrachtete zärtlich ihr gerötetes Gesicht, nahm das Diktaphon und stieg in den Konservierungsraum hinab. Hier lag jetzt ein Toter mehr – Mizar, der lebend in die Zukunft enteilt und lebend von dort zurückgekehrt war, aber die Rückkehr in die Vergangenheit nicht überstanden hatte. Ich schob den Sessel an Oans Sarkophag. Wo befand er sich? In der Vergangenheit oder in der Zukunft? In welchem Moment hatten ihn Ellons Kraftketten gepackt? Könnte er zurückkehren, wenn wir seinen Verschlag öffneten, wie Mizar aus der Zukunft zurückgekehrt war?
»In einem hast du recht behalten, Verräter«, sagte ich zu Oan. »Du warntest uns vor dem Zeitkrebs, rietest uns, ihn zu fürchten, und der Zeitkrebs hat uns befallen. Du sagtest nur nicht, daß deine Herren oder deine grausamen Brüder uns mit dieser Krankheit infizieren würden. Freue dich, Oan, wir sind krank!
Unsere Seelen bluten, bald werden unsere Körper, zermartert von der Spaltung der Psyche, kraftlos zu Boden sinken, auf die Betten, in den Sesseln versteinern. Freut euch, ihr Grausamen, ihr habt gesiegt.
Aber wozu braucht ihr diesen Sieg? Antworte mir, Verräter, warum kämpft ihr gegen uns? Warum habt ihr unser Geschwader vernichtet? Warum habt ihr ein Sternenflugzeug übriggelassen und mit dem Auseinandergleiten der Zeit zwischen Vergangenheit und Zukunft infiziert? Seid ihr mit dem Sieg allein nicht zufrieden? Müßt ihr euch noch an unseren Qualen weiden? Die abergläubischen Aranen erklärten euch für Götter! Was seid ihr schon für Götter? Unholde seid ihr, Henker! Ich würde dir in die Augen spucken, Oan, wenn meine Spucke diejenigen träfe, die sich hinter dir verbergen! Ach, ihr Gelangweilten, wie dürstet ihr nach dem Schauspiel unserer Qualen! Und wenn das erwünschte Schauspiel ausbleibt, ihr Verhaßten? Wenn wir trotz allem der kranken Zeit entfliehen? Werdet ihr uns verfolgen? Werdet ihr den verderblichen Strahl ins letzte Sternenflugzeug feuern? Noch einmal frage ich: Warum kämpft ihr gegen uns? Warum laßt ihr uns aus eurer strahlenden Hölle nicht fort? Wodurch haben wir euch erzürnt?«