»Und wir gehören wohl zu den galaktischen Ameisen?« erkundigte sich Oleg ruhig.
»In gewissem Maße ja. Die Ramiren hätten uns und auch die Aranen längst vernichtet, wenn wir ihre realen Feinde wären. Aber wir bedeuten ihnen ebensoviel wie die Ameisen den Menschen. Sie bemühen sich, über unsere Pläne Bescheid zu wissen? Würden nicht auch wir uns bemühen, über die Bewegung der Ameisen im gesäuberten Wald informiert zu sein, zumindest zu dem Zweck, um sie nicht grundlos auszurotten? Ich sage Ihnen: Den Ramiren sind wir völlig egal! Und nur, wenn wir auf irgendeine Weise, sei es durch eine Explosion des Raumes oder eine Störung des Gravitationsgleichgewichts, ihre Tätigkeit erschweren, schnipsen sie uns ärgerlich weg. Und wir haben dann den Eindruck, es wäre ein Krieg entbrannt und Armeen unbarmherziger Feinde zögen auf uns zu!« Romero, der zum Saal gesprochen hatte, wandte sich mir zu. »Habe ich Sie überzeugt, mein Freund?«
»Zu drei Vierteln, Pawel!« »Und warum nicht völlig?«
»Eine gar zu schmähliche Rolle weisen Sie uns zu. Galaktische Ameisen! Eine bittere Wahrheit.«
»Einst empfanden die Menschen auch die Wahrheit als bitter, daß sich die Erde um die Sonne dreht, nicht aber die Sonne um die Erde. Und viele faßten es als Beleidigung auf, daß außer der Menschheit noch andere vernunftbegabte Zivilisationen bestehen. Der größte Fehler war es, sich für einzig zu halten im Weltall oder für allüberragend. Erinnern Sie sich, Eli: Je mehr die Macht und die Vernunft der Menschheit wachsen, desto mehr zerstreute sich ihr Ausschließlichkeitsempfinden. Diesen Prozeß der Selbsterkenntnis werden wir fortsetzen!«
»Warum wenden Sie sich an mich? Sprechen Sie für die ganze Besatzung!«
»Strittig ist, welche Rolle Sie, nicht die anderen, für die Ramiren spielen. Doch ich erkenne schon in dieser Fragestellung Ihren alten Hochmut. Eine neue Tragödie von Fehlern ist unnötig. Wir haben uns die Ramiren zu menschenähnlich ausgemalt, genauer: zu wesenhaft. Und das ist nicht bewiesen, meine Freunde!«
Romero sagte weiter, noch im zwanzigsten Jahrhundert der alten Ära habe ein Physiker alle Lebewesen in drei Klassen eingeteilt: in die Zivilisationen erster Ordnung, die sich der Umgebung anpassen; die Zivilisationen zweiter Ordnung, die sich die Umgebung anpassen, und die Zivilisationen dritter Ordnung, die sich selbst ändern, wenn sie das äußere Milieu nicht ändern können oder wollen. »Alle Tiere gehören zur ersten Ordnung, das sind die primitiven Wesen. Die Menschen und ihre Sternenfreunde stehen eine Klasse höher sie sind imstande, sich die Umgebung anzupassen. Aber die Menschen werden nicht hitzefest, um in einen glühenden Vulkan hinabzusteigen, nicht kältefest, um nackt im Kosmos zu spazieren. Die Ramiren stehen vielleicht noch eine Klasse höher. Sie haben keine ständige Gestalt, sie können sich jede beliebige schaffen. Der Arane war kein maskierter Ramire unter den Aranen, sondern ein gewöhnlicher Ramire in Aranengestalt. Daran ist nichts Übernatürliches, das ist nur eine hohe Zivilisationsentwicklung.«
»Irgendwann einmal werden auch unsere Nachfahren ihre Gestalt nach Belieben ändern. Und die körperliche Unähnlichkeit von Demiurg und Mensch, Engel und Unsichtbarem, Galakt und Aranen wird selbst für gegenseitige Liebe kein unüberwindliches Hindernis mehr sein. Das glaube ich!«
»Damit wären wir am Ende der Debatte«, sagte Oleg. »Die Selbstbezichtigung des wissenschaftlichen Leiters ist widerlegt. Aber völlig befriedigt bin ich nicht. Die wichtigsten praktischen Fragen liegen im dunkeln. Und die erstrangige lautet: Wie führen wir das letzte Schiff aus dem Kern heraus?«
Oleg erinnerte, daß wir bislang gerade Wege hinaus suchten, Wege, die an und für sich effektiv seien. An und für sich sei hier nichts effektiv. Hier tauge nur, was den Ramiren nicht entgegenwirke. Doch was wirke ihnen nicht entgegen? Welcher Plan von uns würde keinen neuen »Nasenstüber« provozieren?
»Übrigens widerspricht unser Plan Ihrer Theorie von der Gleichgültigkeit der Ramiren uns gegenüber«, bemerkte Oleg zu Pawel. »Ich widerlege sie nicht, bin aber verpflichtet, darauf hinzuweisen, daß sie nicht erklärt, warum das Sternenflugzeug gewaltsam zurückgehalten wird. Ohne diese Erklärung ist es schwierig, das Weite zu gewinnen. Wir alle wollen darüber nachdenken, und dich, Eli, bitte ich besonders darum.« Er lächelte traurigspöttisch. »Wenn du tatsächlich ihr Verbindungsmann bist, dann solltest du ihnen klarmachen, wie wichtig für uns die Antwort ist. Sie könnten dir freundschaftlich des Rätsels Lösung eingeben!«
Oleg schloß die Versammlung, und ich trat zu Mary. Sie sah mich an, als wäre ich von den Toten auferstanden. Sie selbst wirkte nicht besser. Ich strich ihr übers Haar, und sie lächelte ein blasses Lächeln. Ihre Augen waren tränenvoll.
»Nicht weinen«, sagte ich. »Pawel hat glänzend bewiesen, daß ich kein Verräter bin. Diese Nacht werden wir beide ruhig schlafen. Dank Pawel.«
Romero hob zeremoniös den Stock. »Daß Sie aufrichtig glauben, Verrat geübt zu haben, haben wir alle gesehen. Ich zweifle, daß Ihre Frau so naiv gewesen ist.«
»Ach, ich weiß gar nicht mehr, was ich geglaubt habe und was nicht«, entgegnete sie müde. »Ich habe mich daran gewöhnt, daß Eli zu allem fähig ist… Sie haben recht, Paweclass="underline" Elis Taten widersprechen zeitweise dem, was man von ihm erwartet. Ich habe überlegt, ob ich mich zwingen könnte, am Leben zu bleiben, wenn man Eli schuldig spräche.«
Ich bat Olga, noch im Observationssaal zu bleiben.
Als wir allein waren, sagte ich: »Begreifst du jetzt, daß ich dich vor der Konferenz nicht zu mir lassen konnte? Frage, Olga!«
»Erzähle, wie es geschehen ist«, bat sie. »Vor dem Experiment muß Irina ein entscheidendes Gespräch mit Ellon gehabt haben. Sie kam furchtbar aufgeregt zum Essen. Ich schrieb ihre Erregung der Schwäche nach der Krankheit zu, sie war reizbar, weinte oft…«
»Hat Oleg dir nicht gesagt, was Ellon von Irina verlangte?«
Oleg hatte Olga alles erzählt, was er wußte, sie wollte mehr wissen. Ich konnte nur seine Erzählung wiederholen. Olga weinte, als ich erwähnte, daß Irina sich von uns verabschiedet und gebeten hatte, sie nicht zu verdammen. Ich blickte voller Zärtlichkeit auf Olgas kleinen Kopf, auf ihre grauen, sich ringelnden Haare. Das Schicksal hatte dieser Frau viel geschenkt; Ruhm, wie er keiner anderen zuteil geworden war, und Kummer, genug, um jedes Herz zu zerreißen.
»Was meinst du, ist sie tot? Und wo könnte sie sein?«
Darauf hatte ich keine Antwort. Aus der Vergangenheit kehrte niemand lebend zurück. Das hatten wir an Mizar und Ellon beobachtet. Aus der Zukunft war Wiederkehr möglich. Olga sollte an Oan denken, der aus der Zukunft auf unser Sternenflugzeug geglitten war, an Mizar, an Ellon, er war lebendig an uns vorbeigeflogen, als er aus der Zukunft in die Vergangenheit hinabstürzte. Irina war nicht zurückgekommen, aber das bedeutete nicht, daß sie tot war. Über die Physik der Vergangenheit wußten wir manches, was wußten wir über die Zukunft? »Oleg sagt das gleiche. Ich fürchte, er will mich nur trösten.«
»Für Oleg wäre es wichtiger, sich selbst zu trösten.
Er liebt Irina. Und dann, was heißt trösten? Du bist nicht nur Kapitän von galaktischen Schiffen, sondern auch berühmte Astrophysikerin. Wir müssen dich fragen, was mit Irina geschehen ist, nicht du uns.«
»Ich habe eine Bitte an dich und Oleg. Seit dem Untergang der ,Widder‘ kann ich nur Oshima dublieren. Aber er hat einen prächtigen Ersatzmann Eduard. Ich würde mich gern mit den Zeitmechanismen beschäftigen. Ich betrachte es als meine Pflicht, die von meiner Tochter begonnene Arbeit zu beenden. Jeder Defekt des Stabilisators kann die Arbeit der Schiffsmaschine erneut unterbrechen und uns abermals in Wahnsinn stürzen.«
Ich erriet, daß sie außerdem noch davon träumte, ungefährliche Wege in die Zukunft zu finden und zu erkunden, was mit Irina geschehen war.