Und das ist keine optische Erscheinung, keine Fata Morgana. Nein, die gleichzeitige Ungleichzeitigkeit ist ein realer physikalischer Prozeß, der grandioseste physikalische Prozeß, der Prozeß, der die gesamte Struktur des Weltalls bestimmt, die Wechselwirkung aller materiellen Objekte des Alls. Denn der Kosmos ist voller Gravitationswellen, Teilchen, Photonen, Gas, Staub… Und all das bestrahlt, hüllt ein, zieht an, stößt ab. Und eins kommt aus dem Gestern, das andere aus einer Vergangenheit von Jahrmillionen, doch ihre summarische Wirkung an beliebiger Stelle erfolgt im gleichen Augenblick. Und jedes Objekt antwortet auf die Einwirkung dieser ungleichzeitigen Kräfte mit seiner Einwirkung, aber auch sie erreicht die Nachbarn ungleichzeitig, die nahen bald, die fernen in Jahrmillionen. Auf diese Weise ist die wirkende Zeit an jeder Stelle des Weltalls das Gleichgewicht aller vergangenen Epochen, der ganze unermeßliche Riesenbau der Jahrmilliarden, zu einem Augenblick zusammengefaßt.«
Oleg unterbrach mich erneut. »Übrigens folgt hieraus, daß sich die Gegenwart niemals im Abgrund der Vergangenheit verliert. Nehmen wir an, ich strahle mein Abbild in den Raum, meine Felder, sozusagen alles, was ich als kosmischer Körper darstelle. Und wieviel Jahre auch vergangen sein mögen, in irgendeinem entfernten Winkel des Alls findet sich stets diese meine dahineilende Strahlung, und sie wird physikalisch auf die Objekte einwirken, denen sie begegnet.
Meine Vergangenheit wird in meiner fernen Zukunft real existieren!«
»Widerlegst du mich oder suchst du Bestätigung?«
»Gehen wir zu den praktischen Fragen über«, schlug er vor. »Deine Konzeption ist interessant, aber ich würde gern ein Aktionsprogramm festlegen.«
»Ich weiß nicht, wie praktisch ein Programm ist, das kann man nur im Laboratorium bestimmen.«
Mein Plan lief auf folgendes hinaus: Unser Aufenthalt im Kern, im monolinearen Strom der Zeit, würde früher oder später mit unserem Untergang enden. Es war nicht gelungen, vorwärts, durch die Zukunft, oder rückwärts, durch die Vergangenheit, zu entkommen. Die Hauptgefahr bestand im Passieren der Nullzeit. Tote Materie hielt solche Übergänge leicht aus, für einen Organismus waren sie tödlich. Folglich mußte man aus der Monolinearität in die Zweidimensionalität der Zeit gehen, die Fesseln seiner Zeit überwinden und in die benachbarte Zeit gehen, in die Anderszeit, wie man sie nennen könnte. Man durfte sich nicht einfach von seiner Zeit lösen, sondern mußte sie krümmen, sie seitwärts ausweiten, und die Krümmung andauern lassen. »Und es ergibt sich«, sagte ich, »daß wir uns in jedem Augenblick vorwärts bewegen, in Richtung Zukunft, in der Summe aber mehr und mehr von ihr abweichen.
Und an einem bestimmten Punkt trennen wir uns, wobei wir uns immer weiter vorwärts bewegen, von unserer Zukunft, obwohl wir die Nullzeit nicht kreuzen, und beginnen uns auf unsere Vergangenheit zuzubewegen, die nun unsere Zukunft ist.«
»Du beschreibst eine Kreisbewegung, Eli.«
»Völlig richtig. Darin besteht mein Gedanke, aus der eindimensionalen, geradlinigen Zeit in die zweidimensionale, ringförmige Zeit auszubrechen. Die Ringform ist erforderlich, um in unsere Vergangenheit zurückzukehren, ohne die gefährliche Nullzeit zu passieren.«
»Der Ring der Gegenzeit!« sagte Oleg nachdenklich. »Das klingt gut.«
»Wenn dir die Bezeichnung gefällt, dann wollen wir die Operation so nennen: Rückkehr auf dem Ring der Gegenzeit. Willst du nicht ins Laboratorium gehen und mit Orlan und Olga einen Plan für die Experimente entwerfen?«
Oleg nahm den Flugschreiber und trug ihn zum Safe.
Ich fragte: »Warum hat dich plötzlich der zurückgelegte Weg interessiert?«
Er brachte den Apparat schweigend zum Tisch zurück, drückte ebenso schweigend einen Knopf. Auf dem Bildschirm leuchtete die schon tausendmal gesehene Landschaft auf: ein wildes Durcheinander von Sternen, eine Explosion, die einst im Kern erdröhnt war und sich seitdem unaufhörlich vollzog. Auf den großen Sternenbildschirmen konnte man ebensolche trostlosen Landschaften beobachten, aber lebendige, rasch wechselnde, indes der Flugschreiber ein Bild zeigte, das während eines Flugmoments festgehalten worden war. Verwundert schaute ich Oleg an.
»Sagt dir dieses Bild nichts, Eli?«
»Selbstverständlich nicht.«
»Das ist die Stelle, wo Irina verschwand.«
»Ich verstehe, Oleg. Eine traurige Erinnerung…«
»Nein«, sagte er. »Nicht nur Erinnerung.«
Ich stellte keine Fragen. Hier begann ein Gebiet, in das man ohne Erlaubnis nicht eindringen durfte.
Oleg lächelte seltsam. »Eli, wenn wir uns aus dieser Hölle herausrappeln und zur Erde zurückkehren, nimmst du dann noch mal an einer galaktischen Expedition teil?«
»Wohl kaum. Ich bin schon zu alt dafür.«
»Ich werde eine neue Fahrt unternehmen. Ich bin ja jünger als du, Eli. Und ich habe kein anderes Ziel im Leben, als den Kosmos zu durchpflügen.«
»Und du wirst in den Kern zurückkehren?«
»Wir sind als erste in ihn eingedrungen. Dürfen wir sagen, wir wären die letzten gewesen? Eine neue Expedition wird besser vorbereitet. Und wenn ich an ihr teilnehme, werden mir die vom Flugschreiber bewahrten Sternenlandschaften gut zustatten kommen.«
»Gedenkst du Irina zu suchen?« fragte ich unumwunden. Er stellte den Apparat behutsam in den Safe und schloß ihn gemächlich an die Schiffsmaschine an. Er sagte sehr ruhig: »Jedenfalls möchte ich gern wissen, was mit ihr ist.«
11
Erst jetzt wußten wir die Genialität Ellons als Ingenieur in vollem Maße zu schätzen. Der Kollapsan gab nicht nur die Möglichkeit, die Zeit zu verdichten und zu verdünnen, das Vorzeichen ihres Laufs zu verändern, sondern sie auch zu krümmen. Und die gekrümmte Zeit wurde nicht allein durch die Geschwindigkeit und die Richtung ihres Laufs charakterisiert, sondern auch durch den Winkel zu unserer natürlichen Zeit. Diesen Abweichungswinkel nannte Olga »Phasenwinkel des Flugs in die Anderszeit«. Rasch häufte sie die schwierigsten Formeln des »Anderszeitwinkels« auf. In ihnen hätte sich vielleicht die Schiffs« maschine zurechtfinden können, meine Begriffsfähigkeiten überstiegen sie. Dafür erfreute uns Olga mit der Mitteilung, daß Orlan sie beim halben Wort verstehe und einige der wahnsinnig komplizierten Formeln ihm zuzuschreiben seien. Darüber wunderte ich mich nicht. Den Demiurgen ist die Begabung für die Himmelsmechanik angeboren. Wir sind stärker als sie in dem Gefühl für Gut und Böse, unsere menschliche Besonderheit besteht darin, die wahre Moral bei allen Umwandlungen eines sozialen Systems in ein anderes zu verteidigen; Wahrheit ist überall Wahrheit, Unterdrückung ist überall Unterdrückung, Freiheit ist überall Freiheit. Doch in der Konstruktion von Gravitationsmaschinen waren uns die Demiurgen weit voraus.
Zunächst war die phasische Anderszeit nur für Atomprozesse geschaffen worden. Im Stabilisator wurde bereits die Vibration der Makrozeit getilgt, im Transformator änderten sich das Vorzeichen und die Geschwindigkeit der eindimensionalen Makrozeit, das hatte Ellon noch vor seinem Tod zuwege gebracht. Doch von der zweidimensionalen Phasenzeit hatte er keine Ahnung gehabt. Vieles hätte schneller und besser gehen können, wäre er nicht dem Wahnsinn verfallen.