Hfgen arbeitete sechzehn Stunden am Tag und hatte jede Woche mindestens einen Nervenzusammenbruch. Diese Krisen traten stets sehr heftig und in abwechslungsreichen Formen auf. Einmal fiel Hfgen zur Erde und zuckte stumm; das nchste Mal hingegen blieb er zwar stehen, schrie aber grauenhaft, und dies fnf Minuten lang ohne jegliche Unterbrechung; dann wieder behauptete er auf der Probe, zum Entsetzen aller, er bekomme pltzlich seine Kiefer nicht mehr auseinander, ein Krampf habe eingesetzt, es sei scheulich, nun knne er nur noch murmeln, und das tat er denn auch. Vor der Abendvorstellung, in der Garderobe, lie er sich von Bock - der seine sieben Mark fnfzig noch immer nicht wiederhatte - die untere Gesichtshlfte massieren, sthnte und murmelte mit aufeinandergepreten Zhnen. Eine Viertelstunde spter, auf der Bhne, gehorchte ihm sein Mundwerk wie je; er benutzte es mit Geschicklichkeit, strahlte und hatte Erfolg.
Die kleine Angelika litt; Hfgen kmmerte sich nicht darum. Frau von Herzfeld litt; er speiste sie ab mit intellektuellen Konversationen. Rolf Bonetti litt, um der kleinen Angelika willen, die sprde blieb, wie eigensinnig und eifrig er sich auch um sie bewarb; so mute sich der schne junge Liebhaber mit Rahel Mohrenwitz trsten: dieses tat er widerwillig und ohne da darum die angeekelten Zge verschwunden wren aus seinem Gesicht. Hans Miklas hate; hungerte - wenn die Efeu ihm nicht gerade Butterbrote schenkte -; schimpfte mit seinen politischen Freunden auf Marxisten, Juden und Judenknechte; trainierte zh, bekam kleine Rollen und unterhalb der Backenknochen immer schwrzere Lcher.
Mit seinen politischen Freunden steckte auch Otto Ulrichs viel zusammen. Gerade vor ihnen war es ihm peinlich, da die Erffnung des Revolutionren Theaters immer wieder hinausgeschoben wurde. Jede Woche erfand Hfgen eine andere Ausrede. Es geschah hufig, da Ulrichs nach der Probe den Freund beiseite nahm, um zu flehen: Hendrik! Wann fangen wir an! Dann redete Hfgen, schnell und leidenschaftlich, von der Verwerflichkeit des Kapitalismus, vom Theater als politischem Instrument, von der Notwendigkeit einer kraftvollen, durchgearbeiteten, knstlerisch-politischen Aktion, und versprach schlielich, unmittelbar nach der Premiere von Mieze macht alles mit den Proben fr das Revolutionre Theater zu beginnen.
Jedoch ging die stimmungsvolle Silvesterpremiere vorber; viele andere Premieren folgten, die Saison nahte sich ihrem Ende, sie war fast vorbei: vom Revolutionren Theater gab es noch immer nicht mehr als das schne Briefpapier, auf dem Hfgen eine hochgestimmte und verzweigte Korrespondenz mit prominenten Autoren sozialistischer Gesinnung fhrte. Als Otto Ulrichs wieder einmal bat und drngte, erklrte Hendrik ihm, fr diese Saison sei es, tief bedauerlicherweise und infolge eines Zusammenkommens von fatalsten Umstnden, zu spt geworden: man msse leider bis zum nchsten Herbst warten. Diesmal verfinsterte sich Ulrichs Miene; Hendrik aber legte dem Freund und Gesinnungsgenossen den Arm um die Schulter und redete auf ihn ein mit jener durchaus unwiderstehlichen Stimme, die erst sang und bebte, dann heftig und schneidend wurde; denn nun geielte Hfgen die moralische Verkommenheit der Bourgeoisie und pries die internationale Solidaritt des Proletariats. Ulrichs war zu vershnen. Man trennte sich mit langem Hndedruck.
Damals wurde eben die letzte Novitt fr diese Spielzeit vorbereitet: in Theophil Marders Komdie Knorke sollte Hendrik Hfgen die Hauptrolle spielen. Das gesellschaftskritisch-dramatische Werk Marders hatte groen Ruhm; alle Kenner priesen seine hchst persnlich geprgte Form, seine unfehlbare Bhnenwirksamkeit und geistvoll unbarmherzige Bosheit. Zu der Knor-ke-Urauffhrung wrden die Kritiker aus Berlin herbeigereist kommen. brigens erwartete man auch den Autor - nicht ohne Herzklopfen; denn Marders unerbittlich hohe Meinung von sich selber war ebenso bekannt wie seine grimmige Schnoddrigkeit und seine Neigung zu jh aus dem Nichts geholten heftigen und dauerhaften Streitigkeiten.
Bei aller Angst aber freute sich Hfgen auch auf die Ankunft des berhmten Dramatikers; er zweifelte kaum daran, da dem Hellsichtigen und Erfahrenen seine Leistung auffallen werde. Ich mu gut werden in,Knorke'! schwor Hendrik sich.
Damit er sich nur ganz der Rolle widmen konnte, berlie er dieses Mal die Regie dem Direktor Kroge, der ein alter Spezialist fr die Komdien des Theophil Marder war. Knorke gehrte in einen Zyklus von satirischen Stcken, die das deutsche Brgertum unter Wilhelm II. schilderten und verhhnten. Held der Komdie war der Emporkmmling, der mit dem zynisch verdienten Geld, mit dem ordinren Elan seines Wesens und einer skrupellosen, niedrigen, selbstbewuten Intelligenz sich Macht und Einflu in den hchsten Kreisen erobert. Knorke war grotesk, aber auch imposant. Er reprsentierte den parvenhaft- emporschieenden, vitalen, ganz dem Geist entfremdeten bourgeoisen Typus. Hfgen versprach groartig zu werden in dieser Rolle. Er hatte ihre grausam schneidenden Akzente und zuweilen ihre beinah rhrende Hilflosigkeit. Keine Frage: Hfgen mute Sensation machen in diesem Stck.
Seine Partnerin, Knorkes Lebensgefhrtin, die nicht weniger skrupellos ist als er selber, und schwcher nur dadurch, da sie liebt: da sie Knorke liebt - seine Partnerin in der genialen Komdie spielte ein junges Mdchen, das von Theophil Marder in energisch oder beinah zornig abgefaten Briefen dringend empfohlen worden war. Nicoletta von Niebuhr besa noch wenig praktische Theatererfahrung - nur ganz selten war sie aufgetreten, und dies in kleineren Stdten -; aber ein selbstsicheres, fast einschchterndes Wesen. Marder hatte dem armen Oskar H. Kroge in krassen Ausdrcken mit dem grlichsten Skandal gedroht, falls die Direktion des Knstlertheaters Frulein von Niebuhr nicht fr ein erstes Fach engagieren wrde. Kroge, der vor des Dramatikers frchterlicher Diktion klein und ngstlich wurde, lie Nicoletta in Knorke probeweise gastieren. Sie kam angereist, mit vielen Handkoffern aus rotem Lackleder, einem breitrandigen schwarzen Herrenhut zu einem brennend roten Gummimantel, einer groen gebogenen Nase und leuchtenden Katzenaugen unter einer hohen, schnen Stirn. Alle bemerkten sogleich, da sie eine Persnlichkeit war: die Motz konstatierte es mit ehrfurchtsvoll bewegter Stimme im H. K., und niemand mochte ihr widersprechen, selbst Rahel Mohrenwitz nicht, obwohl diese sich ber die Ankunft der Neuen rgerte; denn ganz entschieden war auch Nicoletta eine dmonische junge Dame, sie brauchte weder Monokel noch lange Zigarettenspitze, um es der Welt zu beweisen.
Rolf Bonetti und Petersen diskutierten darber, ob Nicoletta schn zu nennen sei. Der enthusiastische Petersen fand sie einfach blendend; der vorsichtige Kenner Bonetti wollte sie nur als interessant bezeichnet wissen. Von schn kann doch gar nicht die Rede sein, bei der Nase! sagte er wegwerfend. Aber ihre Augen sind herrlich, schwrmte Petersen, wobei er um sich blickte, ob die Motz nicht in der Nhe war. Und wie sie sich hlt! Majesttisch, mchte man beinah sprechen! - Drauen ging Nicoletta vorbei, Arm in Arm mit Hfgen, was viel bemerkt ward. Ihr Kopf mit der khnen Nase, dem leuchtenden Blick und der groen Stirn glich dem eines Renaissance-Jnglings: dies stellte, mit leidvoller. Einsicht, Frau von Herzfeld fest, die das Paar eiferschtig verfolgte. Nicoletta hielt sich sehr gerade. Ihre grell geschminkten, scharfen Lippen formten die Worte mit einer schneidenden Przision; jeder Satz klirrte vor Akkuratesse; die Vokale sprach sie ganz weit vorn, so da sie blank und flach klangen, kein Konsonant ging verloren, noch die beilufigste Floskel wurde zum Triumph der Sprachtechnik.