Immer noch wurde Tusch gespielt, ebenso laut wie ausfhrlich; immer noch dauerte das huldigende Geschrei. Inzwischen waren Lotte und ihr Dicker beim Propagandaminister und bei Hfgen angekommen. Die drei Herren hoben flchtig die Arme, die Gruzeremonie lssig andeutend. Dann neigte Hendrik sich mit einem ernsten und innigen Lcheln ber die Hand der groen Dame, die er so oft auf der Bhne hatte umarmen drfen. - Hier standen sie, dargeboten der brennenden Neugier einer gewhlten ffentlichkeit: vier Mchtige in diesem Lande, vier Gewalthaber, vier Komdianten - der Reklamechef, der Spezialist fr Todesurteile und Bombenflugzeuge, die geheiratete Sentimentale und der fahle Intrigant. Die gewhlte ffentlichkeit beobachtete, wie der Dicke dem Herrn Intendanten auf die Schulter schlug, da es krachte, und sich mit einem grunzenden Lachen erkundigte: Na, wie geht's, Mephisto?
Die Sentimentale sagte mit seelenvollem Blick zum Intendanten, fr den sie eine geheime - jedoch nicht gar zu geheime - Zuneigung im Busen trug: Ich habe Ihnen noch gar nicht gesagt, Hendrik, wie wunderschn ich Ihren Hamlet finde. Er drckte ihr schweigend die Hand, wobei er einen Schritt nher an sie herantrat und ebenso innig zu blicken versuchte, wie es ihr von der Natur gegeben war. Der Versuch mute miglcken: Seine fischigen Juwelenaugen gaben soviel sanfte Wrme nicht her. Deshalb machte er ein ernstes, beinah etwas rgerliches, offizielles Gesicht und murmelte: Ich mu ein paar Worte sprechen. Dann erhob er die Stimme. Sie hatte einen leuchtenden, raffiniert geschulten Metallton und war bis in die entferntesten Winkel des groen Saales hrbar und wirksam, als sie ausrief: Herr Ministerprsident! Hoheiten, Exzellenzen, meine Damen und Herren! Wir sind stolz - ja, wir sind stolz und froh, da wir dieses Fest heute in diesem Hause mit Ihnen, Herr Ministerprsident, und mit Ihrer wundervollen Gattin begehen drfen
Mit dem ersten seiner Worte war das bewegte Gesprch der Zweitausend-Personen-Gesellschaft verstummt. In vollkommener Stille, in devoter1 Regungslosigkeit lauschte man der langen, pathetischen und platten Glckwunschrede, die der Intendant, Senator und Staatsrat fr seinen Ministerprsidenten hielt. Alle Augen waren auf Hendrik Hfgen gerichtet. Alle bewunderten ihn. Er gehrte zur Macht. Seine Stimme brachte, anllich des dreiundvierzigsten Geburtstages seines Herrn, die berraschendsten Jubeltne hervor. Er..hielt das Kinn hochgereckt, die Augen schimmerten, seine sparsamen und khnen Gesten hatten den schnsten Schwung. Er vermied es aufs sorgsamste, ein wahres Wort zu sagen. Der skalpierte Csar, der Reklamechef und die Kuhugige schienen darber zu wachen, da nur Lgen, nichts als Lgen von seinen Lippen kmen: Eine geheime Verabredung verlangte es so, in diesem Saale wie im ganzen Land.
Whrend er sich dem Ende seiner Ansprache mit bravours gesteigertem Tempo nherte, flsterte eine hbsche, kindlich aussehende kleine Dame - die Gattin eines bekannten Filmregisseurs -, die im Hintergrund des Raumes ein bescheidenes Pltzchen hatte, tonlos ihrer Nachbarin zu: Wenn er fertig ist, mu ich hingehen und ihm die Hand schtteln. Ist es nicht phantastisch? Ich kenne ihn doch noch von frher - ja, wir sind in Hamburg zusammen engagiert gewesen. Das waren ulkige Zeiten! Und was hat der Mensch seitdem fr eine Karriere gemacht!!
In den letzten Jahren des Weltkrieges und in den ersten Jahren nach der Novemberrevolution* hatte das literarische Theater in Deutschland eine groe Konjunktur. Um diese Zeit erging es auch dem Direktor Oskar H. Kroge glnzend, den schwierigen Wirtschaftsverhltnissen zum Trotz. Er leitete eine Kammerspielbhne in Frankfurt am Main- In dem engen, stimmungsvoll intimen Kellerraum traf sich die intellektuelle Gesellschaft der Stadt und vor allem eine angeregte, von den Ereignissen aufgewhlte, diskussions- und beifallsfreudige Jugend, wenn es die Neuinszenierung eines Stckes von Wedekind oder Strindberg gab oder eine Urauffhrung von Georg Kaiser, Sternheim, Fritz von Unruh, Hasenclever oder Toller. Oskar H. Kroge, der selbst Essays und hymnische.Gedichte' schrieb, empfand das Theater als die moralische Anstalt: von der Schaubhne sollte eine neue Generation erzogen werden zu den Idealen, von denen nian damals glaubte, da die Stunde ihrer Erfllung gekommen sei - zu den Idealen der Freiheit, der Gerechtigkeit, des Friedens. Oskar H. Kroge war pathetisch, zuversichtlich und naiv. Am Sonntagvormittag, vor der Auffhrung eines Stckes von Tolstoi oder von Rabindranath Tagore, hielt er eine Ansprache an seine Gemeinde. Das Wort Menschheit kam hufig vor; den jungen Leuten, die sich im Stehparkett drngten, rief er mit bewegter Stimme zu: Habet den Mut zu euch selbst, meine Brder! - und er erntete Beifallsstrme, da er mit den Schillerwollen schlo: Seid umschlungen, Millionen!
Oskar H. Kroge war sehr beliebt und angesehen in Frankfurt am Main und berall dort im Lande, wo man an den khnen Experimenten eines geistigen Theaters Anteil nahm. Sein ausdrucksvolles Gesicht mit der hohen, zerfurchten Stirn, der schtteren, grauen Haarmhne und den gutmtigen, gescheiten Augen hinter der Brille mit schmalen Goldrand war hufig zu sehen in den kleinen Revuen der Avantgarde; zuweilen sogar in den groen Illustrierten. Oskar H. Kroge gehrte zu den aktivsten und erfolgreichsten Vorkmpfern des dramatischen Expressionismus.
Es war ohne Frage ein Fehler von ihm gewesen - nur zu bald sollte es ihm klarwerden -. sein stimmungsvolles kleines Haus in Frankfurt aufzugeben. Das Hamburger Knstlertheater, dessen Direktion man ihm im Jahre 1923 anbot, war freilich grer. Deshalb akzeptierte er. Das Hamburger Publikum aber erwies sich als lngst nicht so zugnglich dem leidenschaftlichen und anspruchsvollen Experiment wie jener zugleich routinierte und enthusiastische Kreis, der den Frankfurter Kammerspielen treu gewesen war. Im Hamburger Knstlertheater mute Kroge, auer den Dingen, die ihm am Herzen lagen, immer noch den Raub der Sabinerinnen und Pension Schller zeigen. Darunter litt er. Jeden Freitag, wenn der Spielplan fr die kommende Woche festgesetzt wurde, gab es einen kleinen Kampf mit Herrn Schmilz, dem geschftlichen Leiter des Hauses. Schmilz wollte die Possen und Reier angesetzt haben, weil sie Zugstcke waren; Kroge aber bestand auf dem literarischen Repertoire. Meistens mute Schmilz, der brigens eine herzliche Freundschaft und Bewunderung fr Kroge hatte, nachgeben. Das Knstlertheater blieb literarisch - was seinen Einnahmen schdlich war.