»Die Ärmsten, sie müssen doch auch was haben, wenn Weihnachten ist«, sagte sie. Und deshalb sah man einige Tage vor Weihnachten Michel und Ida mit einem großen Korb zwischen sich den verschneiten Weg hinauf zum Armenhaus wandern. In den Korb hatte Michels Mama allerlei gute Sachen gepackt. Da gab es Kostproben von allen Würsten und von der Fleischsülze und dem Schinken und Klößen und Weißbrot und Pfefferkuchen und Safranstollen und Kerzen und auch eine kleine Dose mit Schnupftabak für Stolle-Jocke.
Nur jemand, der selbst lange hat hungern müssen, kann sich vorstellen, wie froh sie im Armenhaus waren, als Michel und Ida zu ihnen kamen. Am liebsten hätten sie alle sofort angefangen zu essen: Stolle-Jocke und Kalle-Karo und Johann-Ein-Öre und Trödel-Niklas und Lumpen-Fia und Unken-Ulla und die Vibergsche
und Salia Amalia und wie sie alle hießen. Aber die Maduskan bestimmte:
»Nicht vor Heiligabend - damit ihr’s wisst!« Und dagegen wagte keiner etwas zu sagen.
Michel und Ida gingen nach Hause und dann wurde es Heiligabend. Es war schön in Katthult an diesem Tag und am Tag danach auch. Da fuhren sie alle zur Christmette in die Kirche von Lönneberga und Michel war richtig glücklich, wie er so im Korbschlitten dahinfuhr, denn Markus und Lukas liefen, dass der Schnee um ihre Hufe wirbelte und sie alle anderen Schlitten weit hinter sich ließen.
Während der ganzen Christmette saß Michel brav und still auf seinem Platz, ja, er benahm sich so gut, dass seine Mama darüber in ihr blaues Schreibheft schrieb: »Dieser Junge ist eigentlich fromm; in der Kirche macht er nicht den geringsten Unfug.« Den ganzen ersten Weihnachtstag war Michel genauso friedlich. Er und Ida spielten artig mit ihren Weihnachtsgeschenken und über Katthult lag der herrlichste Frieden.
Aber dann kam der zweite Weihnachtstag und Michels Papa und Michels Mama sollten zum Weihnachtsschmaus nach Skorphult fahren. Skorphult war ein Hof am anderen Ende der Gemeinde. Alle in Lön-neberga kannten ja Michel, und deshalb waren die Kinder nicht eingeladen worden.
»Ach, mir macht es nichts«, sagte Michel. »Bloß die Skorphulter können einem Leid tun. Die armen Menschen, so lernen sie mich ja nie kennen!«
»Nein, und mich auch nicht«, sagte Klein-Ida.
Nun war natürlich beabsichtigt, dass Lina zu Hause bleiben sollte, um auf die Kinder aufzupassen, aber schon früh am Morgen fing sie an zu heulen und wollte unbedingt ihre Mutter besuchen, die in einer Kate nah bei Skorphult wohnte. Lina hatte sich wohl vorgestellt, wie gut es wäre, im Schlitten mitfahren zu können, wenn er doch sowieso in die Richtung fuhr.
»Ach, ich kann auch auf die Kinder aufpassen«, sagte Alfred. »Zu essen ist ja da und ich werd schon aufpassen, dass sie keine Streichhölzer oder sonst was anrühren.«
»Sicher, aber du weißt doch, wie es mit Michel ist«, sagte Michels Papa und starrte düster vor sich hin.
Aber da sagte Michels Mama:
»Michel ist ein netter kleiner Junge. Er macht keinen Unfug - jedenfalls nicht, wenn Weihnachten ist. Heul nicht, Lina, du darfst mit!«
Und so kam es.
Alfred, Michel und Ida standen am Küchenfenster und sahen den Schlitten den Abhang hinunterfahren und als er nicht mehr zu sehen war, machte Michel einen zufriedenen Bocksprung.
»Hei! Jetzt werden wir Leben in dieses Haus bringen«, sagte er. Aber plötzlich zeigte Ida mit ihrem dünnen Zeigefinger auf den Weg draußen.
»Guckt mal, da kommt Stolle-Jocke«, sagte sie.
»Ja, wirklich«, sagte Alfred. »Da stimmt doch was nicht!«
Es war nämlich so, dass Stolle-Jocke nicht ausgehen durfte. Er war ja etwas seltsam im Kopf und konnte allein nicht zurechtkommen. Behauptete jedenfalls die Maduskan.
»Er findet weder hierhin noch dorthin«, sagte sie.
»Und ich hab keine Zeit herumzurennen und nach ihm zu suchen, wenn er sich verläuft.« Aber nach Kat-thult fand Jocke allemal und nun kam er den Weg entlang wie ein Häufchen Elend. Die weißen Haare flatterten ihm um die Ohren und bald stand er schluchzend in der Küchentür.
»Wir haben keine Klöße bekommen!«, sagte er. »Und Wurst auch nicht. Diese Maduskan hat alles genommen.«
Dann brachte er nicht mehr heraus, weil er so weinte.
Da wurde Michel wütend, so furchtbar wütend, dass Alfred und Ida ihn kaum anzusehen wagten. In seine Augen kam etwas Wildes und er nahm einen Napf aus Porzellan vom Tisch.
»Her mit dieser Maduskan!«, schrie er und schleuderte den Napf an die Wand, dass die Scherben flogen. »Und gebt mir meine Büsse!« Alfred kriegte richtig Angst.
»Beruhige dich doch erst mal«, sagte er. »Es ist gefährlich so wütend zu werden.«
Dann streichelte und tröstete Alfred seinen armen Großvater und wollte wissen, warum die Maduskan so etwas Schreckliches getan hatte, aber das Einzige, was Jocke sagen konnte, war: »Wir haben keine Klöße bekommen! Und keine Wurst. Und ich hab ihn nicht bekommen - meinen Schnu-hupf-hupf-tabak.« Da zeigte Ida auf den Weg draußen.
»Guckt mal, da kommt Unken-Ulla«, sagte sie.
»Um mich nach Hause zu holen«, sagte Jocke und begann am ganzen Körper zu zittern.
Unken-Ulla war eine flinke kleine Armenhaus-Alte und sie wurde jedes Mal von der Maduskan nach Kat-thult geschickt, wenn Jocke verschwunden war. Er ging oft nach Katthult - dort fand er ja Alfred und außerdem Michels Mama, die so freundlich war zu allen, die arm waren.
Von Unken-Ulla erfuhren sie dann, wie alles zugegangen war. Das Essen aus Katthult hatte die Maduskan in einen Schrank oben auf dem Dachboden gelegt, dort war es kalt um diese Jahreszeit. Als sie aber Heiligabend die Vorräte hervorholen wollte, fehlte ein kleines elendes Würstchen und da wurde sie wild und rasend.
»Wie ein reißender Löwe in der Schafherde«, sagte Stolle-Jocke und Unken-Ulla war seiner Meinung.
Hu, wie hatte diese Maduskan ihnen die Hölle heiß gemacht um die kleine Wurst und hatte mit aller Gewalt den Sünder herausfinden wollen, der sie gestohlen hatte.
»Denn sonst gibt es hier einen Heiligabend, dass Gottes Engel darüber weinen werden«, hatte sie gesagt.
Und es wurde auch so, versicherte Unken-Ulla. Da war nämlich keiner, der eingestehen wollte, dass er das Würstchen genommen hatte, wie sehr die Maduskan auch schrie und tobte. Einige aber glaubten, dass sie sich das nur ausgedacht hätte, um die Leckerbissen für sich allein zu behalten. Wie auch immer - es wurde jedenfalls ein Heiligabend, über den die Engel Gottes wirklich weinen konnten, sagte Unken-Ulla.
Die Maduskan saß den ganzen Tag oben in ihrem Dachbodenzimmer, brennende Kerzen auf dem Tisch, und aß Wurst und Klöße und Schinken und Safranstollen, dass sie beinahe platzte. Unten im Armenhaus aber saßen die anderen und weinten und hatten nur etwas gesalzenen Fisch zu essen, obwohl es Heiligabend war.
Und genauso war es am ersten Weihnachtstag. Die Maduskan schwor mehr als einmal, niemand würde auch nur einen halben Kloß bekommen, bevor der Wurstdieb hervorgekrochen käme und gestehen würde. Und während sie darauf wartete, saß sie oben in ihrem Zimmer und aß und aß und sprach mit niemandem. Unken-Ulla hatte die Maduskan ungefähr jede Stunde einmal durch das Schlüsselloch beobachtet und gesehen, wie all die Leckerbissen, die Michels Mama geschickt hatte, Stück für Stück in ihrem breiten Rachen verschwanden. Aber jetzt hatte sie wahrscheinlich Angst, dass Stolle-Jocke nach Katthult gegangen war, um sich dort zu beklagen, denn sie hatte Unken-Ulla gesagt, dass sie ihn, tot oder lebendig, auf der Stelle nach Hause schaffen sollte.
»Deshalb ist es wohl besser, wenn wir jetzt gehen, Jocke«, sagte Unken-Ulla.
»Ja, Großvater«, sagte Alfred, »die Armen sind arm dran!«
Michel sagte nichts. Er saß auf der Holzkiste und knirschte mit den Zähnen. Noch lange, nachdem Jocke und Unken-Ulla gegangen waren, saß er da und man merkte, dass er nachdachte. Schließlich aber schlug er mit der Faust auf die Holzkiste und sagte: »Ich weiß einen, der ein Festmahl geben wird!« »Wer denn?«, fragte Ida.